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Feuer brennt nicht

Feuer brennt nicht

Titel: Feuer brennt nicht
Autoren: Ralf Rothmann
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ist heller und vor allem ruhiger; außerdem sind die Fenster dicht, und die Heizung funktioniert, und es ist spätam Heiligen Abend, als sie sich auf den Teppich hocken und einen Stadtplan ausbreiten, ein zerfleddertes Ding aus der Zeit vor der Wende; der Ostteil ist noch wie neu. – Wohin, mein Engel? Er hat bis dahin in Steglitz und in verschiedenen Straßen in Schöneberg gewohnt, sie hat ihre ersten Berliner Jahre im Wedding verbracht, und selbstverständlich geht man nicht zurück. Allein der Gedanke an so einen Schritt scheint den Kreislauf umzukehren, das Herz pocht auf dem Rücken. Also nach Friedenau oder Charlottenburg, wo es große Wohnungen mit hohen Räumen und Parkettböden gibt? Oder gar nach Dahlem? Doch die vertrauten Westbezirke, besonders die bürgerlichen, wirken abgelegen und verblichen seit dem Beginn der neuen Zeit; Stapel von Kompottschälchen auf dem Trödelmarkt fallen einem ein, emaillierte Reklameschilder fürs Bad, dunkle Anrichten in Berliner Zimmern und glatzköpfige Pfeifenraucher in Lederwesten. Und in den neuen Kiezen, die in Betracht kommen, in Mitte, Friedrichshain und am Prenzlauer Berg, kennt man sich vor lauter Lifestile und Logos nicht mehr aus; dort hat man Jugend zu einem Beruf gemacht, Erfolg zu einer Religion, und lebt auf viel zu dünnem Eis; man hört es leise knacken, wenn sie die Deckel ihrer Laptops schließen. Also fort aus dieser Stadt? Doch auch das kommt nicht in Frage. Man kann sie zwar nicht lieben, gewiss nicht; trotzdem bleibt es die beste für jemanden, der eigentlich nirgendwo hingehört.
    Weil sie eine ihrer Selbstgedrehten rauchen will, öffnet Alina ein Oberlicht. Es schneit, Flocken fallen durch den Schein der Fenster im Hof, wo die Zweige einerEiche bei Wind die Mauern streifen; es gibt Spuren davon im mürben Putz, ein Muster aus halbmondförmigen Schrammen. Sie schließt die Augen, lässt einen Zeigefinger kreisen und tippt auf den Plan, auf den äußersten Winkel unten rechts. Krumme Straßen, Gassen fast, eine dörfliche Struktur am Nordufer des Müggelsees; ringsum viel Grün, S-Bahnstationen im Wald. Es gibt eine Sternwarte und einen Tunnel unter der Spree, die nach einer Krümmung Dahme heißt, das Forum Köpenick, ein Einkaufszentrum, ist nah und der Flughafen Schönefeld beruhigend weit entfernt, und Alina reißt ein Streichholz an und sagt: »Da werden wir leben.« Die Flamme spiegelt sich in den Scheiben, Doppelglas, und ein paar Flocken wirbeln in das Zimmer und zerschmelzen auf ihrem roten Haar.

    Von sich zu schreiben in der ersten Person geht selten ohne Verstellung. Das »Ich« ist ein schiefes Licht, und der Vorsatz, schonungs- oder gar schamlos zu sein, hat sich immer noch abgeschliffen während der Arbeit und Schwächen in persönliche Vorzüge verwandelt. So bleibt nur die dritte Person, eine dürftige Tarnung, womöglich mit sprechendem Namen. Man denkt an das Kind, das glaubt, nicht gesehen zu werden, wenn es die Augen schließt oder beide Hände vors Gesicht schlägt. Man denkt an den ausweglos gefangenen, allen Blicken und jedem Hohn preisgegebenen Nackten. Die dritte Person ist ein Senken der Lider.
    Bei einem Spaziergang durch Friedrichshagen gefällt ihnen das zweistöckige Biedermeierhaus auf den ersten Blick. Weiße Putzflächen zwischen gelben Klinkersegmenten, große Fenster, säulengetragene Balkone und eine verglaste Veranda im Parterre, jetzt das Wartezimmer eines Arztes. Die Proportionen im Schatten der noch kahlen Bäume haben ein erfreulich menschliches Maß, und es ist Alina, die einen kleinen Zettel hinter dem Ziergitter der Tür entdeckt: Dachgeschosswohnung frei. Sie zieht ihn am Ärmel in die Einfahrt zum Hof. Die Vermieterin, eine Frau um die sechzig, steht im Garten und begrüßt sie freundlich, nahezu strahlend; zu polierten Pumps und einem dunklen Kostüm, das nicht die Andeutung einer Taille sehen lässt, trägt sie rosa Gummihandschuhe, an denen noch das Preisschild klebt, und die dauergewellten Haare sind so energisch mit Spray fixiert, dass sie an ein Baiser erinnern. Ihre Gepflegtheit meint eindeutig Abgrenzung, ein fast amerikanisches Vorsichtshalber, und ihrem flinken Blick entgeht kein Detail an ihnen. Sie legt die Harke weg und bedauert, die Räume im Moment nicht zeigen zu können; es sei schließlich Sonntag, und die derzeitigen Mieter wären überrumpelt. Aber man verabredet ein Telefonat. »Schriftsteller sind Sie? Na, dann ist das hier richtig. Strindberg hat mal nebenan gelebt.«
    In den
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