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Feuer brennt nicht

Feuer brennt nicht

Titel: Feuer brennt nicht
Autoren: Ralf Rothmann
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Frühe Jahre
    Wie alltäglich oder unbedeutend die Reise auch sein mag, wie trist der Bahnhof und wie voll das Abteil mit den lärmenden Kindern, den ungelenk sich abmühenden Kofferträgern und den Keuchenden, die es gerade noch geschafft haben: Wenn alle Ansagen gemacht und alle Türen geschlossen sind und jeder auf das Anrucken des Zuges wartet, gibt es nicht selten einen Moment der Stille, der mehr zu meinen scheint als das unausgesprochene »Endlich!« oder die Entfernungen zwischen hier und da, der einem wie ein geheimnisvolles Innehalten vorkommt, ein Atemholen der Zukunft, und die meisten Menschen, selbst die misslaunigen oder ungeduldigen, einen Herzschlag lang demütig aussehen lässt.
    Wir wissen nichts, wenn jemand stirbt, nicht viel, wir stehen vor einem Rätsel, und will man Obskures vermeiden, schweigt man besser. Zwar haben wir uns angewöhnt zu sagen, die oder der Verstorbene lebt in uns, unserem Gedenken, weiter; aber irgendwann sind auch wir vergessen, und was dann? Sicher ist nur so viel: Niemand auf der Welt kann ein Leben, sei es nun lang oder kurz gewesen, ungeschehen machen. Es hat einmal für immer stattgefunden, es hat eingewirkt auf den vergangenen, es wirkt ein auf den gegenwärtigen und wird einwirken auf den künftigen Zustand derMysterien; und wie die Natur, der physische Bereich, in Wahrheit keinen Tod kennt, sondern immer nur Verwandlung, endlos, so wird es im metaphysischen Bereich eine Entsprechung geben. Jetzt, in diesem Moment, schließen unzählige Menschen zum letzten Mal die Lider, und gleichzeitig schlagen unzählige andere sie zum ersten Mal auf, und sieht man einmal ab von allem Persönlichen, könnte man den Eindruck gewinnen, das ganze Dasein, das leidige Werden und Vergehen, sei nichts als ein Blinzeln oder Augenzwinkern auf dem Grund einer allumfassenden Gelassenheit. Wäre das ein Trost?
    Die Fahrt kommt einem endlos vor. Es ist heiß, die Luft über dem Gleisgewirr zittert. Pappelsamen fliegt im Abteil herum. Ein alter S-Bahnwagen mit Holzbänken, wie es sie in Westberlin schon längst nicht mehr gibt; der Feuerlöscher wackelt, die geöffneten Fenster rappeln in den Rahmen, Türen schnellen zu mit hartem Knall. Die Stationen haben ungewohnte Namen: Ostkreuz, Wuhlheide, Rummelsburg. Vor den langen, mit Graffitis besprühten Ställen der Trabrennbahn in Karlshorst dösen Pferde in der Sonne. Es wird immer grüner, und die Menschen reden kaum und blicken aus dem Fenster mit Gesichtern, denen man wenig Humor zutraut. Viele Männer tragen Hemden mit verblichenen Mustern, unglaublichen, wie auf Sofas von Möbel-Discountern. Strohfarben das Haar der Frauen, billig der Schmuck, und der zementfarbene Teint wird noch etwas grauer, die Lippen schmaler, wenn sie bemerken, dass man sie anschaut. Obwohl sie hemmungslos gegafft haben, als Alina und er denWagen betraten, ist ein Blick auf sie offenbar nicht erwünscht, auch kein freundlich gemeinter. In Köpenick ausgestiegen, dreht sich eine Frau noch einmal nach ihnen um, und als Wolf ihr zunickt, schüttelt sie den Kopf und geht beleidigt davon in ihren Sandalen aus dem anderen Staat.
    Noch mehr Pappelsamen, ohne dass man die Bäume sähe. Auf dem Bahnsteig in Hirschgarten kein Mensch. Spatzen picken Moos aus den Fugen der Betonplatten, deren Relief an Kopfsteinpflaster erinnern soll, und Alina trinkt einen Schluck Wasser aus einer kleinen Plastikflasche. Heimlich beobachtet er ihre Spiegelung in der Wagenscheibe, die verzitterte Silhouette. Aufrecht sitzt sie, die Hände locker im Schoß, wo sie manchmal an dem Ring am kleinen Finger dreht, und weil sie übernächtigt ist und blass, wirken ihre blauen Augen dunkler als sonst. Feine Falten ziehen sich von den Lidwinkeln zu den Schläfen, doch die Stirn mit den vereinzelten Sommersprossen ist trotz ihrer sechsunddreißig Jahre glatt. Sie trägt die roten, früher einmal lockigen Haare neuerdings kurz geschnitten, was ihr Gesicht ein wenig fülliger aussehen lässt. Mit dem runden Kinn, den schmalen Lippen und der geraden, kurz vor der Wurzel leicht eingewölbten Nase hat sie etwas von einer Jugendstil-Schönheit, wie man sie auf alten Drucken findet, in Büchern mit Exlibris. Doch der ornamentale Ernst und die pathetische Schicksalhaftigkeit solcher Frauen sind ihre Sache nicht; dazu hat sie zu viel Humor. Sie atmet tief, bei offenem Mund, und wie immer, wenn sie seinen Blick bemerkt, hellen sich ihre Züge auf, ein fast reflexartiges Lächeln. DerWagen steht, aus irgendeinem
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