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Feuer brennt nicht

Feuer brennt nicht

Titel: Feuer brennt nicht
Autoren: Ralf Rothmann
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herausgetretenen Tropfen noch völlig klar, wie Kristall.
    Es sah aus, als versprühten sie Licht in feinsten Strahlen, zart regenbogenfarben hier und da, und nun musste sie lächeln. Dieser Morgen vor ihrem Tod, fühlte sie, er war ja schon der Morgen nach dem Tod, und das erleichterte sie und gab ihr die Ruhe, die sie sich für diesen Augenblick gewünscht hatte; es nahm ihr die Angst und verhinderte, dass sie zitterte, als sie die Ampulle aus dem Taschentuch wickelte, den Glashals abbrach und die Lösung, die keinen Namen hatte, nur einen Strichcode auf dem Etikett, in die halbvolle Plastikflasche kippte. Sie wölkte kurz einmal auf, ein milchiger Nebel, der sich aber rasch klärte, so dass nach wenigen Herzschlägen wieder nichts als Wasser darin zu sein schien, reines Wasser. Das reinste.
    Es ist nicht sicher, ob der Hund sie noch lebend gefunden hat. An der Schließe des Uhrenarmbands hingen ein paar Haare aus dem Fell. Zwei Pilzsammler, die sich im Umkreis des Teichs bewegten, hörten zwar das Bellen und Jaulen, kümmerten sich aber zunächst nicht darum. Sie suchten nach Täublingen und Maronen, und erst nach gut einer halben Stunde, als es immer noch nicht aufhörte, wagten sie sich in seine Nähe, mit offenen Messern. Ein brauner, sehr schlanker Labrador, ein sanfter Rüde, der sich flach auf den Boden legte und mit dem Schwanz wedelte vor Freude, und als ein Mann seinen Korb abstellte und sich hinabbeugte, um dem Tier den Kopf zu kraulen, leckte es ihm die Hand und wälzte sich auf den Rücken. Es hatte eine Steuermarke am Halsband und eine jener kleinen Kapseln, in denen sich Name und Adresse des Halters befinden. Zwei schlammverschmierte Schnürstiefel standen im Gras, in einem steckte eine leere Wasserflasche, und als auch der andere Mann näher trat, ein Stück Brot aus seinem Anorak nahm und es dem Hund hinhielt, entdeckte er die roten Haare und den unsagbar blassen Teint der Frau hinter den Lärchenzweigen, die über der Mulde hingen, dem Ruheplatz für ein Wild. Die Hände flach auf dem Solarplexus, lag sie dort wie gebettet, und trotz des Zwielichts, in dem ein Ohrring schimmerte, hob sich ihr regloses Profil mit dem geschwungenen Kinn und der geraden, vor der Wurzel etwas eingewölbten Nase deutlich ab, wie nachgezeichnet von einem Ernst, der kaum Zweifel zuließ. Die Fingernägel sahen wächsern aus, am Pulsgelenk kein Schlag. Die Augen mit den hellen Wimpern waren geschlossen, der Mund leicht geöffnet, ein paar welke Fichtennadeln klebten an der Schläfe, und während einer der Männer sein Telefon aus der Tasche zog, lief der Hund zum Weiher hinunter, trank etwas, schnappte verspielt nach einem weißen Falter und verschwand dann im Wald.

    Auf dem Deckblatt ihrer halbfertigen Dissertation ist noch ein Zitat von Meister Eckhart zu lesen, ein mögliches Motto, mit Bleistift geschrieben und nur flüchtig wieder ausradiert: »Wisset: meine Seele ist so jung, wie da sie geschaffen ward, ja, noch viel jünger!«, steht da. »Und wisset: es sollte mich nicht wundern, wenn sie morgen noch jünger wäre als heute!«

Berlin, fast zwanzig Jahre nach dem Mauerfall. Kreuzberg ist gesichtslos geworden, und die Buchhändlerin Alina und der Schriftsteller
     Wolf ziehen an den grünen Rand der Stadt. Am Müggelsee, wo die Unterschiede zwischen Ost und West noch nicht verwischt sind, leidet Wolf aber zunehmend
unter den »Details der Zweisamkeit«. Plötzlich taucht Charlotte auf, eine Geliebte aus der Vergangenheit, und er ergreift die Flucht in neue, vom
offensiven Eros der Professorin befeuerte Sensationen. Alina wird skeptisch, und so überwindet Wolf »die Hölle der Verheimlichung« und ist überrascht:
Seine Frau akzeptiert das Verhältnis zu der anderen nicht nur, sie ermuntert ihn sogar dazu …
    Ralf Rothmann, geboren 1953 in Schleswig, aufgewachsen im
Ruhrgebiet, lebt seit 1976 in Berlin. Zuletzt erschienen: Rehe am Meer . Erzählungen (st 3991), Junges Licht . Roman (st 3754), Hitze . Roman (st 3675).
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