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Feuer brennt nicht

Feuer brennt nicht

Titel: Feuer brennt nicht
Autoren: Ralf Rothmann
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Bereitschaft zu allem, auch zum Leid.
    Sicher, nach so vielen Jahren, nach allem, was er ihr zugemutet hat mit seiner rücksichtslosen, meistens nur ihn und die Arbeit meinenden Empfindsamkeit, kann er kaum davon ausgehen, dass ihre Liebe eine ohne Vorbehalte wäre. Und doch hat er die leise Hoffnung, dass das, was ihn ausmacht in ihren Augen, so mangelhaft es auch sei, an guten Tagen ähnlich auf sie wirkt wie eine gewisse Musik, die auf den ersten Blick unvollkommen erscheinen mag, eigentlich aber nur etwas Langmut braucht; wie jene Lieder oder Stücke, die deswegen so nahegehen, ja erschüttern, weil sie dem Wunsch nach einer letztendlichen Süße nicht ganz entgegenkommen, die innere Rundung des Herzens nicht makellos ausfüllen, so dass man dasFehlende ergänzen muss mit den Schwingungen der eigenen Seele. Und das wäre dann eine höhere Vollkommenheit.
    Er rückt seinen Stuhl näher an ihren. Es scheint immer noch heller zu werden im Raum. Ganze Trauben entfalteter Kronenblätter hängen an den stacheligen Armen der Pflanze, und während Herr Mauch das gut zwei Stunden dauernde Aufblühen – vom zaghaften Öffnen der Knospen über das jähe, sich aus der spiraligen Anordnung herausdrehende Aufstrahlen der Kelchblätter, die, als würden sie mit ihrem eigenen Schwung nicht zurechtkommen, wieder leicht zurückfedern, bis hin zum vogelartigen Sichaufplustern der Blüten mit den pinselförmigen Stempeln, ihrem schreiend weißen Ja! – im Schnelldurchlauf auf dem Display seiner Kamera betrachtet, blicken Wolf und Alina, die mit seinen Fingern spielt, immer wieder zu den schrägen Schatten der Nadelbäume auf dem Rasen und den glänzenden Milchflaschen in der Tür des Hauses, das in dieser Form ein Traum ist seit langem schon: ein kleines Haus mit großen Fenstern, in Waldnähe. Eine Elster hüpft über das Dach. Eine Katze verschwindet unter der Treppe.
    Die Zeit vergeht, Frau Mauch ist eingeschlafen, und die Gastgeberin, die ihr eine Decke über die auseinanderklaffenden Knie gelegt hat, zählt längst nicht mehr die Blüten, sie zählt die Knospen, die noch bleiben. Tatsächlich wird der Duft im Raum ermüdend, doch müssen die Scheiben geschlossen bleiben, der Insekten und Falter und Fledermäuse wegen, die immer wieder gegen das Glas fliegen, immer prasselnder auch, wasden Hund zunehmend unruhig macht; er verkriecht sich unter dem Tisch. Der volle Mond sinkt hinter die Bäume, den gezackten Wipfelsaum, im Osten ist ein Hauch der Morgendämmerung zu ahnen, und schließlich sind alle Kronen aufgegangen und manche sogar schon wieder erloschen. Hier und da hängen die Reste der Hüllen am Fruchtknoten herab, schlaff und graurot, und als Frau Seidenkrantz erzählt, dass man früher ein Herzmittel daraus destillierte, und dabei ihre Tante ansieht, durchaus streng, steckt die sich trotzig eine neue Zigarette an. »Ja, ja«, murmelt sie und schiebt das Päckchen in die Tasche ihres Rocks. »Im nächsten Leben machen wir nur spirituelle Sachen, Weihwasser trinken und so …«
    Mühsam steht sie auf, eine überraschend große Person, zieht sich ein Stricktuch um die Schultern und gibt Wolf und Alina die Hand. »Also dann: Das Haus heißt Nummer dreiundsiebzig. Sie wissen, wo der Schlüssel liegt. Schauen Sie es sich an, wenn Sie Zeit haben. Ich mache Ihnen einen guten Preis; ich will ja nichts mehr verdienen. Hauptsache, meine Nichte kriegt sympathische Nachbarn. – Und jetzt reicht’s mir, Kinder. Für eine verblühte Frau war das Poesie genug. Ich geh ins Bett, da kann ich wenigstens in Ruhe rauchen.«

    Die Nachrufe waren nur kurz, und in manchen Zeitungen fehlten sie ganz, als wollte man Richard Sander bestrafen für den etwas unappetitlichen Umstand, dass er erst starb, nachdem er seinen Ruhm überlebt hatte. Junge Rezensenten hoben sein stilistisches Könnenhervor in einem Stil, der sich offenbar den Schreibprogrammen ihrer Computer verdankte oder dem Schielen auf die Uhr. Immerhin wurde im Lokalblatt seines Heimatortes an der Flensburger Förde ein Prosagedicht von ihm gedruckt, sein letztes, »Gesang der Asche«. Die Lebensgefährtin schickte eine Kopie an Wolf, der sie eine Weile in dem Durcheinander auf seinem Arbeitstisch liegen ließ, bis er sie eines Tages nicht mehr fand. Mit trotziger Lakonie geschrieben von einem, dem der Engel schon einen Finger auf die Lippen gelegt hatte, war der kleine Text eine Klage darüber, was alles im Lauf des Lebens durch die Hände rinnt, und es gab einen Schluss, der sich
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