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Feuer brennt nicht

Feuer brennt nicht

Titel: Feuer brennt nicht
Autoren: Ralf Rothmann
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ohne ihn oder auch nur seine Hypothese zu leben, entzieht ihm spürbar Energie. Aber schließlich überwindet er seine Skrupel und bringt den Brief zur Post.
    Die Antwort lässt auf sich warten, viele Tage lang, was er bereits als Reaktion wertet, und zwar als eisige. Er kann nicht mehr arbeiten, ist leicht gereizt, hat wieder Magenschmerzen und schläft schlecht. Mit dem Hund streift er in den dunklen Morgenstunden, in denen man den Bodennebel zwar noch nicht sieht, seine Kühle aber schon an den Knien fühlt, durch die Wälder bis nach Grünau, bis zur Kuhlen Wampe gar. Er hat sich ein kleines Fernglas gekauft und liebt es, das Wild damit zu beobachten, den lautlosen Wechsel zwischen den quadrierten Bezirken. Auch an dem Morgen des Tages, an dem sich alles entscheiden sollte, geht er zu einem Hochstand am See.
    Irgendwo klagt ein Sperlingskauz; die melodische Pfeifstimme verhallt in der Ferne. Etwas raschelt im Schilf, Wasser gluckst, dann ist es wieder still, sieht man von den Mücken ab, die ihn umso wütenderattackieren, je näher er der Wildschwein-Suhle kommt. Man riecht bereits den Baumteer, der sumpfige Boden federt unter seinen Schritten, und wenn er innehält, hört er das Platzen von Blasen und das leise Sirren, das entsteht, wenn sich Wasser in der Fußspur sammelt. Auf einer kleinen Höhe angelangt, blickt er auf die Lichtung hinunter, das Delta eines flachen Bachs. Nebel hat sich über den Wasserlauf und das Seeufer gelegt, die versteckte Bucht, an der die Tiere trinken, doch er ist nicht dicht; die Spitzen vereinzelter Tannen ragen daraus hervor, ein paar Haselsträucher, und weiter östlich, wo die Buchen an den Nadelwald stoßen, die knorrigen Kiefern, lichtet er sich schon und treibt in Fetzen den Hang hinauf. Langsam wird der Himmel hell.
    Etwas klickt im Bach, ganz leise, als hätte die Strömung einen flachen Stein gewendet. Die Wipfel über dem Hochstand färben sich bereits rosig, und Wolf weist dem gehorsamen Hund einen Platz neben der Leiter zu, hängt sich das Fernglas auf den Rücken und steigt die Sprossen hinauf. Zum Teil sind sie neu, das Harz der Fichten, die der Forstgehilfe verwendet hat, klebt noch an den Händen. Die Kanzeltür ist nur mit einem Span verriegelt, Kronkorken und Kippen liegen auf dem Boden des Verschlags, Schnipsel einer Illustrierten, und das Flintenbrett ist voller Kerben, jede ein Tod. Er nimmt auf dem glatten Sitzbalken Platz und tastet in seiner Jacke nach den Zigaretten; vor kurzem hat er sie auf einem Cafétisch gefunden, eine französische Marke, und manchmal wieder ein paar Züge gepafft.
    Doch dann bewegt sich etwas zwischen den Bäumen, und er greift nach dem Glas. Obwohl es aus Plastik ist, fühlen sich die Augenringe an wie kaltes Metall. Langsam nähern sich ein paar Rehe dem Wasser, bleiben aber noch in Deckung; ihre Schatten verschieben sich zwischen den Stämmen. Nur eine alte, um das Becken herum schon sehr schmale Ricke mit Narben an der Flanke wagt sich aus dem Gehölz hervor und kommt Schritt für Schritt den Hang hinunter, wobei sie nervös die Ohren dreht und immer wieder stehen bleibt, um die Senke zu überblicken. Malmend bewegt sie das Maul, aus dem ein einzelner Halm hängt, und in der Kühle dort unten ist ihr Atem zu sehen. Sie hält den Rumpf, der halb verdeckt ist von dem Rispengras, fast quer zu ihrer Richtung, fluchtbereit, und nachdem sie die Bucht nach allen möglichen Bedrohungen abgesucht hat, wobei ihre schwarze Nase zuckt, stellt sie sich mit beiden Vorderhufen in den See und beginnt zu trinken. Und jetzt erst kommen die anderen Rehe den Hang hinunter, eine kleine Gruppe aus Muttertieren und Kitzen mit noch weiß geflecktem Fell. Die schlanken Rücken scheinen durch das Gras zu fließen.
    Nur ein Bock bleibt auf dem Hügel. Ein zarter Jährling mit heller Decke, stakst er vor den Fichten auf und ab und schlägt immer mal wieder sein Gehörn gegen die Stämme, dass kleine Rindenfetzen fliegen; oder er wirft Moos und Reisig mit den Vorderhufen auf und prescht auf nebelverhangene Sträucher los, als wären sie Rivalen. Beißend der Uringeruch, den er aus dem Nachtlager mitbringt, verkotet die Flanken; offenbar befindet er sich in seiner ersten Brunft,schaumiger Speichel tropft ihm vom Maul, und in Wellen durchschauert Erregung sein Fell. Doch als er sich den Trinkenden und Äsenden nähern will, verschwinden die Kitze hinter den Müttern, und die alte Ricke geht auf ihn los. Den Hals fast waagerecht vorgereckt, die Kniegelenke
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