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Feuer brennt nicht

Feuer brennt nicht

Titel: Feuer brennt nicht
Autoren: Ralf Rothmann
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spitz gewinkelt, verfolgt sie ihn sogar ein Stück weit durch den Wald, und sein empörtes Schreien, ein kehliges Blöken, hallt noch aus dem Dickicht, als das Rudel schon weitergezogen ist.
    Nachdem er eine der starken Zigaretten geraucht hat, wobei ihm angenehm schwindelig wurde, packt Wolf das Glas ein und öffnet die Tür mit den lautlosen Lederscharnieren. Die Sonne geht auf, frührote Strahlen blitzen zwischen den Baumstämmen, und er steigt durch Strähnen warmer Luft die Leiter hinunter und ist auf der halben Höhe, als er den Bock noch einmal sieht. Er stakt allein durch das flache Uferwasser, bleibt stehen, trinkt etwas und blickt über den See, in dem sein Spiegelbild zittert, und nun kann Wolf erkennen, dass er verletzt ist. Ein langer, schwarzrot verkrusteter Riss zieht sich über seine linke Seite, fliegenumschwirrt, ein Rippenknochen ragt daraus hervor, und als er den Kopf dreht und ihn auf der Leiter bemerkt, erschrickt er nicht. Er sieht ihn eine Weile mit glanzlosen Augen an, wobei die graue Zunge in dem offenen Maul pulsiert, scharrt kurz im Kies, trinkt noch einmal und verschwindet dann ohne Eile in dem hohen, lautlos sich hinter ihm schließenden Schilf.
    Irgendwo gurren Tauben, und einen Lidschlag lang sind ihre hellen Flügel und Bäuche zwischen den Wipfeln zu erkennen. Die Zapfen schwanken, ohne dasseiner herabfiele. Der Platz vor der untersten Sprosse ist leer, das Gras, auf dem der Hund gelegen hat, richtet sich schon wieder auf. Verdutzt blickt Wolf sich um und lässt den leisen Schnalzlaut hören, auf den er gewöhnlich reagiert, aber Webster erscheint nicht. Irgendwo hämmert ein Specht, und das klingt, als wären die Bäume hohl.
    Ein paar Tatzenabdrücke sind zwar im Schlamm zu erkennen, doch verliert sich die Spur dann im Gestrüpp. Wolf ruft und pfeift; er sucht das Seeufer ab und streift fingerschnippend durch den Forst, und wenn er sich Vorwürfe macht, ihn nicht angebunden zu haben, so nur im Hinblick auf Alina und ihr Entsetzen, ihre Trauer. Vor der Treppe des hallenden Spreetunnels lässt er den Karabinerhaken an der Leine klirren und ist bei aller Ungeduld doch erstaunt über seinen Gleichmut, der nicht Ausdruck von Desinteresse oder Kälte ist, sondern aus dem sicheren, bis zu diesem Augenblick noch nicht gekannten Gefühl kommt, dass ein Tier nicht verlorengehen kann. Und dass es sich demnach auch nicht verirrt.
    Sogar verschwindend belehrt er ihn also, dieser Hund, dem er schon so viel verdankt. Seit er bei ihnen lebt, fühlt er sich kräftiger und gesünder; seine schwanzwedelnde Aufgeregtheit macht ihn ruhig, und seine Ruhe nimmt ihm so manche Unsicherheit; alles um ihn herum erscheint lebendiger einfach dadurch, dass Webster ihm nicht gestattet, belanglos zu sein, und oftmals nachts, wenn die Fenster dunkel sind in der Straße und Wolf auf seinen Text starrt in dem kleinen Zimmer, kommt ihm das Hecheln unter dem Schreibtisch vorwie der Puls der Luft. Wahrscheinlich, so denkt er, wird das Tier auch ohne ihn heimfinden. Außerdem erinnert er sich an ein Gespräch zwischen Alina und dem Revierförster, einem rauschbärtigen Mann, der seine Orden und Verdienstkreuze aus der DDR-Zeit an den Innenspiegel seines Jeeps geklebt hat: Wenn ein Hund davonläuft, merke man sich die Stunde und sei jeden Tag zur selben Zeit an dem Ort, an dem man ihn verloren hat; irgendwann bricht er schon wieder durchs Gestrüpp. Und er hängt sich die Leine um den Nacken und geht nach Hause.

    »Fear is a man’s best friend«. Man lebt damit, sie ist immer da. Auch und gerade, wenn man nichts zu befürchten hätte, pflegt und kultiviert man sie, und obwohl sie eine Form von Benommenheit ist, eine zittrige, findet man sich wacher durch sie, abwehrbereiter. Denn dass man beschützt sei, dass man geführt werde oder sich in einem die Schöpfung vollende – dieser ganze Humbug aus dem Bauchladen einer Müsli-Metaphysik zerfällt mit einem Atemzug beim Ertasten eines Knötchens unterm Schlüsselbein, beim Anblick einer Schliere Blut im Stuhl, beim Abschiedsbrief aus heiterem Himmel. »Vor Katastrophen«, sagte einmal ein angetrunkener Manager in dem Zug, in dem Wolf zu einer Lesung fuhr – er mag sie nicht, die Atmosphäre in der ersten Klasse, den übergrauten Ernst in den Gesichtern, die bemüht unauffälligen, Schuhe und Koffermarken abschätzenden Seitenblicke und das wichtigtuerische Telefonieren im geschäftlichen Ton; er verabscheutsie sogar, diese Welt, die nur aufgrund von Zahlen so tut, als
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