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Feuer brennt nicht

Feuer brennt nicht

Titel: Feuer brennt nicht
Autoren: Ralf Rothmann
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hörte, seine ruhigen Schritte in den derben Stiefeln, sondern auch das leise Kratzen der Hundetatzen auf dem Pflaster.Nahezu sternlos der Himmel, den man durch das offene Fenster sehen konnte, doch irgendwo hinter dem Haus musste der Mond scheinen. Der Schatten des Giebels fiel über den Hof, und das Moos auf dem Dach der Remise dort glänzte, als läge ein Hauch von Silber darauf. Sie blickte auf die Uhr, zog ein T-Shirt an, Jeans und einen dicken Pullover, und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. Sie schminkte sich nicht, auch nicht die Augen, aß nichts, trank nur einen Schluck Selters aus einer kleinen, knapp halbvollen Plastikflasche und steckte sie in die Tasche ihres Parkas. Dann breitete sie die Tagesdecke über das Bett, gab den Pflanzen Wasser, warf eine Handvoll Sonnenblumenkerne auf den Balkon und überprüfte noch einmal den Inhalt ihrer Schreibtischlade. Schließlich küsste sie die kleine Ikone an der Wand, die Heilige Anna selbdritt, drehte das Licht aus und ging langsam die Treppe hinunter.
    Das glatte Holz der Geländerkehre, die knarrende untere Stufe. Das alte Cordsakko am Haken. Alle Tränen geweint, auch die der Hoffnung, jede Verzweiflung durchlitten, und doch schnürte es ihr die Kehle zu, als sie sein Arbeitszimmer betrat. Der viel zu kleine Tisch, ursprünglich ein Küchenmöbel, die Manuskriptstapel auf dem Boden, die verstaubte Gitarre, der nach Lavendel riechende Kleiderschrank, das Ledersofa und die wackelige Stehlampe – das alles war ihr noch nie so ernst und so bezeichnend vorgekommen, wie Hieroglyphen einer glücklichen Zeit, in der man herumtollte auf den Kissen, über Romane und Gedichte sprach, als wären sie die Welt, und Tee trank auf dem kleinenBalkon. Ihr Bild, das einzige im Zimmer, sah man von ein paar Kunstpostkarten ab, hing in einem Silberrahmen zwischen den vollgestopften Bücherregalen, und sie hatte nie verstanden, warum gerade das die ihm liebste Aufnahme war. Vermutlich, weil sie nicht gewusst hatte, dass sie fotografiert wurde und demnach ganz unverkrampft wirkte. Nur bis zu den Schultern war sie zu sehen; zwanzig Jahre alt und noch voller Locken, hielt sie den Kopf etwas geneigt, so dass der Blitz ihr Haar fast weiß erscheinen ließ und der Stirn einen seltsamen Schein gab, etwas madonnenhaft Reines. Dabei briet sie gerade Fischstäbchen.
    Sie zog den Brief aus der Parkatasche und legte ihn vor seinen Laptop, an dem kleine gelbe Notizzettel klebten. Wieder und wieder hatte sie ihn gelesen, und sie strich den verknitterten Umschlag glatt und schrieb mit einem Bleistift Mein Liebster darauf. Dabei zitterten ihre Finger derart, dass sie ihn fester aufdrücken musste, um das Wort zu Ende zu bringen, und so brach beim Unterstreichen die Mine. Das jähe Knacken, ein feiner Knacks, erschreckte sie wie ein Stich ins Herz, und sie schloss kurz die Augen. Die Lücke in der Linie war winzig, als hätte ein Haar auf dem Blatt gelegen, und doch las sie einen Lidschlag lang ihre ganze Geschichte darin. Schweiß brach ihr aus, und sie musste sich setzen; das Leder der Couch war angenehm kühl. Ein Insekt summte hinter dem Vorhang. Dann legte sie ihren Schlüssel neben das Kuvert und ging aus dem Raum und durch den Flur, ohne noch einmal in den Spiegel zu blicken. Sie zog die Wohnungstür von außen zu.
    Die wenigen Laternen zwischen den Häusern verbreiteten ein diesiges orangefarbenes Licht. Tautropfen funkelten an den Metallzäunen mit den aufgeschweißten Pflanzenmotiven, die hier die Vorgärten begrenzten. Kein Mensch auf der Straße, und die weichen Sohlen ihrer Schnürstiefel machten kaum ein Geräusch. Weil sie wusste, dass ihr Mann mit dem Hund am See war, wie fast immer, nahm sie die entgegengesetzte Richtung, unterquerte die Ziegelbrücke am S-Bahnhof und ging an den Taxen mit den schlafenden Fahrern vorbei. Dünner Nebel, knöchelhoch, lag auf den Wiesen des Kurparks. Entfernt war ein Martinshorn zu hören, dann das Rattern eines Zugs in die Innenstadt, der Morgenstern funkelte über den Pappeln, und rasch passierte sie die Kleingartenanlage hinter dem Tennisplatz und bog auf den Weg neben dem Mühlenfließ. Dessen Ufer waren mit Weidenflechtwerk befestigt, und das klare Wasser gluckste leise. Ein Reiher stand im Dämmerlicht.
    Am ehemaligen Forsthaus, einem spitzgiebeligen Fachwerkgebäude, überquerte sie die Straße, das holprige Bruchsteinpflaster. Verlief der schmale Weg bis dahin längs der Schrebergärten, der Wirtschaftsgebäude eines Altenheims und
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