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72 Tage in der Hoelle

72 Tage in der Hoelle

Titel: 72 Tage in der Hoelle
Autoren: Nando Parrado , Vince Rause , Sebastian Vogel
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PROLOG
     
    In den ersten Stunden war nichts. Keine Angst, keine Trauer, kein Gefühl für die Zeit, nicht einmal der Schimmer eines Gedankens oder einer Erinnerung. Nur schwarze, völlige Stille. Dann tauchte Licht auf, ein dünner, grauer Fleck Tageslicht, und zu ihm trieb es mich aus der Dunkelheit, wie ein Taucher, der langsam zur Oberfläche schwimmt. Ganz allmählich erlangte ich wieder das Bewusstsein und erwachte unter großen Mühen in eine zwielichtige Welt auf halbem Weg zwischen Traum und Wahrnehmung. Ich hörte Stimmen und spürte Bewegung um mich herum, aber meine Gedanken waren trübe, und mein Blick war verschwommen. Ich konnte nur dunkle Umrisse und Flächen aus Licht und Schatten ausmachen. Als ich voller Verwirrung auf die nebelhaften Gestalten starrte, sah ich, dass manche der Schatten sich bewegten. Schließlich wurde mir klar, dass einer von ihnen sich über mich beugte.
    » Nando, podés oírme? Kannst du mich hören? Geht es dir gut?«
    Der Schatten kam näher, und als ich ihn benommen anstarrte, kristallisierte er sich zu einem menschlichen Gesicht. Ich sah einen zerzausten Schopf aus dunklen Haaren, darunter tiefbraune Augen. Aus diesen Augen sprach Freundlichkeit – es war jemand, der mich kannte -, aber hinter der Freundlichkeit war etwas anderes: Wildheit, Härte, ein mühsam unterdrücktes Gefühl der Verzweiflung.
    »Na komm, Nando, wach schon auf!«
    Warum ist mir so kalt?Warum tut mein Kopf so entsetzlich weh? Verzweifelt versuchte ich, diese Gedanken auszusprechen, aber mein Mund konnte die Laute nicht formen, und die Anstrengung erschöpfte meine Kräfte schnell. Ich schloss die Augen und ließ mich wieder in die Welt der Schatten gleiten. Aber wenig später hörte ich andere Stimmen, und als ich die Augen aufschlug, schwebten noch mehr Gesichter über mir.
    »Ist er wach? Kann er dich hören?«
    »Sag doch was, Nando!«
    »Nicht aufgeben, Nando. Wir sind bei dir. Wach auf!«
    Wieder versuchte ich zu sprechen, aber mehr als ein heiseres Flüstern brachte ich nicht heraus. Dann beugte sich jemand über mich und sprach mir ganz langsam ins Ohr.
    »Nando, el avión se estrelló! Caímos en las montañas.«
    Wir sind abgestürzt. Das Flugzeug ist abgestürzt. In den Bergen.
    »Verstehst du mich, Nando?«
    Ich verstand nicht. Aus der ruhig-dringlichen Art, wie die Worte gesprochen wurden, konnte ich entnehmen, dass es eine Nachricht von größter Wichtigkeit war. Aber ich begriff weder ihre Bedeutung noch wurde mir klar, dass es etwas mit mir zu tun hatte. Die Wirklichkeit erschien mir weit entfernt und gedämpft, als wäre ich in einem Traum gefangen und könnte mich nicht zum Aufwachen zwingen. Stundenlang schwebte ich in dem Nebel, aber schließlich schärften sich meine Sinne, und ich konnte mir nach und nach einen Überblick über meine Umgebung verschaffen. Anfangs war mir eine Reihe sanfter, runder, über mir schwebender Lichter aufgefallen. Jetzt erkannte ich darin die kleinen, rundlichen Fenster eines Flugzeugs. Mir wurde klar, dass ich in der Passagierkabine eines Verkehrsflugzeugs auf dem Fußboden lag, doch als ich nach vorn in Richtung Cockpit blickte, sah ich, dass nichts an diesem Flugzeug seine Ordnung hatte. Der Rumpf war auf die Seite gerollt: Mein Rücken und Kopf ruhten auf dem unteren Teil der rechten Seitenwand, meine Beine ragten in den schräg aufwärts geneigten Mittelgang. Die meisten Sitze der Maschine fehlten. Von der beschädigten Decke hingen Kabel und Schläuche, und aus den ramponierten Bordwänden quoll Isoliermaterial. Der Fußboden um mich herum war mit Plastikbrocken, verbogenen Metallstücken und anderen Trümmern übersät. Es war taghell. Die Luft war schneidend kalt, und selbst in meinem Dämmerzustand erstaunte mich die Aggressivität dieser Kälte. Ich hatte immer in Uruguay gelebt, einem warmen Land, wo selbst im Winter mildes Klima herrscht. Mit sechzehn hatte ich das erste und einzige Mal einen richtigen Winter mitbekommen: Damals hatte ich als Austauschschüler in Saginaw in Michigan gewohnt. Ich hatte nach Saginaw keine warme Kleidung mitgenommen und kann mich noch gut an den ersten richtigen Wintersturm erinnern, wie der Wind durch meine dünne Jacke pfiff und die Füße sich in meinen leichten Mokassins in Eisklumpen verwandelten. Aber so etwas wie die bitterkalten Böen, die jetzt mit Minustemperaturen durch den Flugzeugrumpf fegten, hatte ich noch nie erlebt. Es war eine wilde, knochenbrecherische Kälte, und sie brannte auf der Haut
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