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Fenster zum Tod

Fenster zum Tod

Titel: Fenster zum Tod
Autoren: Linwood Barclay
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schon, nicht nur einen Nachmittag lang, sondern ein für alle Mal?«
    Ich blickte mich um, als könnte ich die Antwort darauf irgendwo in Harrys Büro finden. »Keine Ahnung. Er leidet ja nicht an – wie heißt das? – Agoraphobie. Dad hat ihn schon hin und wieder aus dem Haus gebracht. Im Wesentlichen, wenn er zum Arzt musste.« Ich hatte Schwierigkeiten mit dem Wort »Psychiater«, aber Harry wusste ja Bescheid. »Ihn zu überzeugen, aus dem Haus zu gehen, ist nicht das Problem. Ihn vom Computer loszueisen, daran beißt man sich die Zähne aus. Jedes Mal, wenn Dad und er unterwegs waren, kamen sie auf dem Zahnfleisch wieder zurück. Ihn dazu zu bringen, aus diesem Haus aus- und woanders einzuziehen, sich dort einzugewöhnen, das ist, wovor mir graut.«
    »Diesen Stein werde ich ins Rollen bringen«, sagte Harry. »Für dich als Nachlassverwalter gibt’s eigentlich nicht viel zu tun, außer gelegentlich mal vorbeizuschauen und was zu unterschreiben. Bei dem einen oder anderen, wenn ich deine Meinung brauchen, dann wird Alice dich anrufen. Vielleicht willst du das Anwesen ja schätzen lassen, um eine Vorstellung zu bekommen, was du dafür verlangen kannst.« Er blätterte sich durch die Akte. »Deine Telefonnummern, E-Mail-Adresse – das steht alles hier drin, glaube ich.«
    »Bestimmt.«
    »Und hier habe ich eine Kopie der Lebensversicherung, die hat dein Vater mir mal geschickt. Dass er eine Unfallklausel hatte, wusstest du ja?«
    »Ich hatte keine Ahnung.«
    »Noch mal fünfzigtausend. Ein kleines Zubrot.« Harry ließ mir Zeit, die Neuigkeit zu verdauen. »Du wirst also nicht so bald nach Burlington zurückfahren?«
    »Erst, wenn ich alles geregelt habe.«
    Das war es dann. Zumindest für heute. Harry begleitete mich hinaus. Er legte mir die Hand auf den Arm.
    »Ray«, fragte er zögernd, »meinst du, es hätte was geändert, wenn dein Bruder gemerkt hätte, dass euer Vater schon so lange weg war? Wenn er sich früher auf die Suche nach ihm gemacht hätte?«
    Diese Frage hatte ich mir auch schon gestellt. Dad, mehr oder weniger in Rufweite, unter dem Traktor eingeklemmt, wahrscheinlich mehrere Stunden, bevor mein Bruder ihn fand. Es musste doch einen ziemlichen Lärm gegeben haben, als es passierte. Das Umkippen des Traktors, das Jaulen der rotierenden Schneidmesser.
    Hat Dad geschrien? Und wenn, hätte man ihn bei dem Getöse, das der Rasenmäher machte, hören können? Wären überhaupt irgendwelche Geräusche bis nach oben zum Haus gedrungen?
    Mein Bruder hat wahrscheinlich nichts davon mitbekommen.
    »Ich rede mir ein, dass es nichts geändert hätte«, sagte ich. »Alles andere hat keinen Sinn.«
    Harry nickte verständnisvoll. »Ja, das ist wahrscheinlich das Beste. Was geschehen ist, ist geschehen. Man kann die Uhr nicht zurückdrehen.« Ich wartete, ob Harry noch einen Gemeinplatz auf Lager hatte, doch er meinte: »Er lebt wirklich in seiner eigenen kleinen Welt, was?«
    »Sie ahnen nicht, wie sehr«, sagte ich.

Zwei
    I ch stieg in den Wagen und fuhr zum Haus meines Vaters zurück.
    Noch lange nach dem Tod meiner Mutter war es für mich das Haus meiner Eltern gewesen, auch als mein Vater ohne sie dort wohnte. Ein volles Jahr hatte ich gebraucht, um mich an diesen Gedanken zu gewöhnen. Dad war noch nicht mal eine Woche tot. Mir war klar, dass es noch einige Zeit dauern würde, bis es in meinen Gedanken nicht mehr das »Haus meines Vaters« war.
    Das war es nämlich nicht. Nicht mehr. Es war meines.
    Und das meines Bruders.
    Ich hatte nie da gewohnt. Es gab ein Gästezimmer, in dem ich schlief, wenn ich zu Besuch kam, doch darin gab es keine Andenken an meine Kindheit. Keine Kommodenschublade mit stapelweise Playboy und Penthouse, keine Regale voller Modellautos, keine Poster an den Wänden. Ich war schon einundzwanzig, als meine Eltern das Haus kauften, und wohnte nicht mehr bei ihnen in unserem alten Haus am Stonywood Drive im Zentrum von Promise Falls. Meine Eltern hatten gehofft, dass einer ihrer Söhne es zu etwas bringen würde, diesen Traum aber auf Eis gelegt, als ich die Uni in Albany schmiss und mir einen Job in Saratoga Springs suchte. In einer Kunstgalerie in der Beekman Street.
    Meine Eltern waren nie Farmer gewesen, doch als sie dieses Anwesen sahen, war die Sache entschieden. Erstens war es auf dem Land, der nächste Nachbar mehrere hundert Meter weit weg. Da waren sie ungestört, sogar ein bisschen isoliert. Damit verringerte sich die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem weiteren
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