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Fenster zum Tod

Fenster zum Tod

Titel: Fenster zum Tod
Autoren: Linwood Barclay
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versuchte wahrscheinlich, sich die Schmerzen vorzustellen, die mein Vater weiß der Himmel wie lange hatte ertragen müssen.
    Dem hatte ich nichts hinzuzufügen.
    »Er war ein Jahr jünger als ich«, sagte Harry und verzog das Gesicht. »Hin und wieder sind wir zusammen etwas trinken gegangen. Als Rose noch lebte, haben wir manchmal eine Runde Golf gespielt. Aber deinen Bruder so lange allein zu lassen, wie man für achtzehn Löcher braucht, das schien ihm dann doch zu riskant.«
    »Und ein Golf-Ass war er ja auch nicht gerade«, sagte ich.
    Harry lächelte betrübt. »Ich will nicht lügen. Beim Putten war er gar nicht schlecht, aber seine Drives waren schlicht Scheiße.«
    Ich lachte. »Stimmt.«
    »Aber als Rose dann nicht mehr war, hatte dein Vater nicht einmal mehr Zeit, einen Eimer Bälle auf dem Übungsplatz zu verschlagen.«
    »Er hat immer in den höchsten Tönen von Ihnen gesprochen«, sagte ich. »Sie waren vor allem ein Freund, der Anwalt kam erst an zweiter Stelle.« Die beiden hatten sich fast ein Vierteljahrhundert gekannt. Seit damals, als Harry seine Scheidung durchgefochten hatte. Nachdem er seiner Ex-Frau das Haus überlassen hatte, wohnte er eine Zeitlang oberhalb eines Schuhgeschäfts hier im Zentrum von Promise Falls. Harry witzelte oft darüber, dass es ganz schön dreist von ihm sei, seine Dienste als Scheidungsanwalt anzubieten, nachdem er sich bei seiner eigenen so über den Tisch hatte ziehen lassen.
    Harrys Handy gab einen Ton von sich, der den Eingang einer E-Mail verkündete, doch er würdigte es keines Blickes.
    »Als ich das letzte Mal mit Dad telefoniert habe«, sagte ich mit einer Kopfbewegung Richtung Handy, »war er gerade am Überlegen, sich auch so ein Ding zuzulegen. Er hatte zwar eines, mit dem man fotografieren konnte, aber das war nicht mehr ganz neu, und die Fotos waren nicht besonders. Außerdem wollte er ein Handy, mit dem das Versenden von E-Mails keine Hexerei ist.«
    »Adam hatte keine Berührungsängste mit diesem High-tech-Kram«, sagte Harry. Dann klatschte er in die Hände. Zeit, zum eigentlichen Grund meines Besuchs zu kommen. »Bei der Beerdigung hast du gesagt, dass du noch dein Studio hast. In Burlington, oder?«
    Ich wohnte jenseits der Grenze des Staates New York, in dem Promise Falls liegt, in Vermont.
    »Stimmt.«
    »Beruflich läuft’s gut?«
    »Kann nicht klagen. Die Branche ist im Umbruch.«
    »Ich habe was von dir gesehen, eine deiner – wie nennt man das – Zeichnungen?«
    »Genau«, sagte ich. »Illustrationen. Karikaturen.«
    »Vor ein paar Wochen habe ich in der Literaturbeilage der New York Times eine gesehen. Deinen Stil erkenne ich überall. Deine Figuren haben alle diese Riesenschädel und winzigen Körper, dass man glaubt, sie müssen jeden Moment umkippen. Und diese abgerundeten Ecken. Wie du die verschiedenen Hautfarben schattierst und alles, das gefällt mir sehr. Wie machst du das eigentlich?«
    »Mit Airbrush.«
    »Zeichnest du viel für die Times? «
    »Nicht mehr so viel wie früher. Es ist ja viel einfacher, sich ein Bild aus dem Internet zu holen, als jemanden mit einer aufwendigen Neuillustration zu beauftragen. Von Zeitungen und Zeitschriften kommt immer weniger. Inzwischen mache ich mehr Webseiten.«
    »Du gestaltest Webseiten?«
    »Nein, ich mache nur den grafischen Teil und gebe das dann an die Webdesigner weiter.«
    »Ich hätte gedacht, wenn man für Magazine und Zeitungen in New York und Washington arbeitet, muss man vor Ort wohnen, aber wahrscheinlich spielt das heutzutage keine Rolle mehr.«
    »Was man nicht scannen und mailen kann, kann man mit FedEx verschicken«, sagte ich. Harry wartete, ob ich noch etwas hinzufügen wollte, dann schlug er den Ordner auf seinem Schreibtisch auf und studierte die Papiere darin.
    »Ray, ich gehe davon aus, dass du das Testament, das dein Vater aufgesetzt hat, schon gesehen hast.«
    »Ja.«
    »Es ist schon lange her, dass er es aktualisiert hat. Die letzten Änderungen hat er nach dem Tod deiner Mutter vorgenommen. Einmal habe ich ihn zufällig bei Kelly’s getroffen, und er hat mich auf einen Kaffee eingeladen. Er saß ganz allein in einer Nische am Fenster und schaute abwechselnd auf die Straße hinaus und in den Standard, aber ohne wirklich zu lesen. Ich habe ihn häufiger da gesehen. Ich glaube, er brauchte Zeit für sich, weg von zu Hause. Jedenfalls winkte er mich zu sich und sagte, er denke über eine Ergänzung nach, von seinem Testament, meine ich. Er müsse vielleicht die eine
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