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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken
Autoren: Sarah Stricker
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1. Kapitel
    Meine Mutter war sehr hässlich. Alles andere hätte mein Großvater ihr nie erlaubt. Sie war dürr und bleich, ihre Haut wollte keine rechte Farbe annehmen, nur ihre Nase lief pausenlos rot an, wenn sie sich ärgerte oder zu sehr freute, wenn sie fror, wenn sie schwitzte oder einfach nur so, aus purer Boshaftigkeit des Körpers. Sie hatte ein spitzes Kinn und einen noch spitzeren Mund, hinter dem ihre Schneidezähne zackig nach vorne drängten, auch wenn das von all den Schönheitsfehlern meiner Mutter wahrscheinlich noch das kleinste Übel war, denn viel zu lachen hatte sie nicht. Wenigstens war sie blind wie ein Fisch, sodass ihr der eigene Anblick die ersten Jahre erspart blieb. Erst als in der dritten Klasse ihre Lehrerin bemerkte, dass sie kein einziges Wort von der Tafel lesen konnte, bekam meine Mutter eine dicke Nana-Mouskouri-Brille, hinter der ihre Augen wie zwei Wasserfarbenkleckse verschwammen.
    »Soll sie sich halt in die erste Reihe setzen«, jammerte ihre Mutter, meine Großmutter, während sie sich redlich mühte, den Flaum auf dem Kopf meiner Mutter zu Zöpfen zu flechten. Sie küsste sie auf die Backen und verwischte heimlich die Lippenstiftreste, um ihr wenigstens etwas Leben ins Gesicht zu reiben, aber mein Großvater rief »Das ist keine Modenschau, verdammt noch mal, sie geht dahin, um was zu lernen«, und die Brille blieb, obwohl meine Großmutter in der Nacht von so schlimmen Kopfschmerzen befallen wurde, dass sich mein Großvater am nächsten Morgen zwanzig Minuten in der Toilette einschließen musste.
    Aber auch später, als meine Mutter Kontaktlinsen bekam und ihr Bauch weich und das Gesicht hart wurde, war sie noch hässlich. Erst kurz vor Schluss, als sie sich schon nicht mehr alleine aufrichten konnte und ich sie mit dem Löffel füttern musste, wurde sie mit einem Mal schön. Die Farbe, die nie wirklich eine gewesen war, blätterte von ihrem Haar wie alter Putz, unter dem ein silbriges Grau zum Vorschein kam. Ihre Augen begannen zu glänzen, die beiden steilen Falten über der Nasenwurzel glätteten sich. Je weiter der Tod sich in ihren Körper fraß, desto lebendiger wurde sie. Sie schäkerte sogar mit dem Doktor, der einmal am Tag nach ihr sah. Sie kannten sich noch aus der Charité, wo meine Mutter nach meiner Geburt gearbeitet hatte, aber damals war sie keine Frau gewesen, sondern Ärztin. Ihr neues, kokettes Lächeln, der Augenaufschlag, wenn er sich über sie beugte und das kalte Stethoskop auf ihre Brust drückte, sodass sie kurz zusammenzuckte, brachten ihn sichtlich durcheinander. Aber ab einem gewissen Alter und Bauchumfang muss man die Flirts nehmen, wie sie kommen. Er turtelte zurück, nannte sie »junge Frau« oder »mein kleines Fräulein«, wofür meine Mutter ihn ein halbes Jahr zuvor noch aus dem Haus geworfen hätte. Sie plauschten über die alten Zeiten, die plötzlich gut gewesen sein sollten, über Professoren, gemeinsame Bekannte, die Unfähigkeit der Kollegen. Meine Mutter kicherte, wie ein kleines Mädchen, das sie erst recht nie gewesen war. Sie legte die Finger an den Hals, den Kopf ein wenig schief, und er strahlte zurück, wie ein Metzgergeselle, der zum ersten Mal einer Sau mit bloßen Händen den Darm entleert hat. Nur ab und zu, wenn er doch mal zur Abwechslung einen Wert maß oder sein Blick auf die Plastikbeutel an ihrem Bett fiel, rieb er sich die Stirn und schaute sehr besorgt, was die Laune meiner Mutter nur noch hob.
    Sie war unheimlich stolz, es am Ende doch noch zu einer vorzeigbaren Krankheit gebracht zu haben, die ihr keiner wegreden konnte. Manchmal weigerte sie sich sogar, ihre Medikamente zu nehmen, obwohl die Schmerzen kaum erträglich gewesen sein müssen.
    »So lange einem was weh tut, weiß man wenigstens, dass es noch da ist«, sagte sie, und ihre Lippen entblößten ein Grinsen, das ich noch nie bei ihr gesehen hatte.
    Das Merkwürdigste aber war, dass sie überhaupt nicht mehr aufhören wollte, zu erzählen. Sie lag in meinem Bett, das früher mal ihres war und jetzt wieder, die Hände auf dem Nabel gefaltet, als erwarte sie noch ein Kind, und redete und redete und redete. Ich saß daneben, irgendwelche Kopien für einen Artikel, den ich zu schreiben hatte auf dem Schoß, damit sie glauben konnte, ich lege nur mal eine Arbeitspause ein, damit das alles ein kleines Schwätzchen bleiben konnte und nicht so nach Lebensbeichte zu müffeln begann, und sagte Dinge wie »geht’s noch?« oder »willst du dich nicht doch etwas
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