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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken
Autoren: Sarah Stricker
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gespielt stolzer, tatsächlich todernst gemeinter Napoleonhand im Jackett aus seinem Büro donnerte, worüber zuletzt nicht mal mehr meine Großmutter lachte.
    Mein Großvater war Offizier gewesen, und sei »noch immer einer!«, wie er mir entrüstet erklärte, als ich mir einmal die Frechheit herausnahm, den Krieg der Vergangenheit zuzuordnen. Er war noch keine 19, als man ihm den Rang eines Oberleutnants verliehen hatte, und auch 50 Jahre später nicht bereit, sich diese Ehre wieder nehmen zu lassen  – selbst wenn er, wie er sich hinzuzufügen beeilte, die Nazis »in der Sache« natürlich abgelehnt habe. Wie alle Deutschen hatte auch er eine Tante, die ein paar Juden im Keller versteckt hatte, und war selbst ein glühender, wenn auch »der Mutter zuliebe« heimlicher Antifaschist gewesen. Von solcherart ideologischen Bredouillen abgesehen waren die Jahre zwischen 39 und 45 jedoch »die besten seines Lebens«, wie er ebenfalls gerne verkündete (siehe oben).
    Die Zeit war wie geschaffen für Männer wie ihn. Männer, die eigentlich noch Jungs waren und das so schnell wie möglich ändern wollten. Die sich für so ziemlich alles begeisterten, was ihnen ein paar Abzeichen auf die Uniform bringen konnte. Und mein Großvater war der Schlimmste von allen. Er sagte »Verantwortung« und meinte »Herausforderung«. Im Radio redeten sie von »Volk und Vaterland«. Er hörte »raus in die große, weite Welt«. Er brachte alles mit, was man damals suchte: Siegeswillen, Machthunger, Leidenschaft. Und völlige Blindheit für die eigenen Defizite. Andere mochten größer und stärker und vielleicht, »vielleeeicht«, sogar schlauer sein. Aber mein Großvater war einer von den Menschen, die sich ihrer selbst so sicher sind, dass sich ihrem Gegenüber jeder Zweifel verbietet. Er wirkte nicht, als halte er sich für etwas Besseres. Er tat es. Und das mit einer solchen Überzeugung, dass ihm die meisten glaubten. Blutjung führte er eine Truppe an, in der die meisten doppelt so alt waren wie er. Einmal eingezogen und von der Konsequenz, mit der »der Führer« seine Vision verfolgte, dann irgendwie ja doch beeindruckt, wollte er es auch zu was bringen. Am Ende schaffte er es bis nach Kaliningrad, das da noch Königsberg hieß, wo er 44 schließlich in russische Gefangenschaft fiel. Die Rote Armee brachte ihn nach Kasan, ins »Tatarenland«, wie mein Großvater so geheimnisvoll durch die Zähne rollte, dass ich es als Kind irgendwo zwischen Transsilvanien und Taka-Tuka-Land ansiedelte.
    Und das war die größte Herausforderung. Am schlimmsten war es im Winter, wenn die vom Ural kommende Luft so kalt war, dass sie einem die Lunge zerschnitt. So kalt, dass es einem die Haut von den Wangen schälte. So kalt, dass die Menschen nicht wagten, sich zu umarmen, aus Angst, aneinander festzufrieren. Und es war immer Winter, immer, außer im Sommer. Aber der war noch schlimmer, weil es dann überall stank, nach Kot und Mensch und faulem Fleisch, das die Russen vor sich hinschimmeln ließen, sodass die Stechmücken einem in den offenen Wunden nisteten. Nur einem gewissen Mischa Sergewitsch, einem Aufseher, der meinem Großvater hie und da ein paar Kartoffeln aus dem Vorratslager zu schmuggeln half, hatte er es zu verdanken, dass er nicht verhungerte. »Ein Antisemit wie er im Buche steht, aber ein wahrer Freund der Deutschen«, sagte er und nickte anerkennend. »Wir haben immer gesagt, wenn sie mich nach Hause lassen, kommt er mit, und dann suchen wir ihm ein echtes deutsches Mädel, das sauber ist und beim Küssen nicht aus dem Mund riecht, dass man glaubt, eine tote Ratte läge unterm Bett.« Kurz bevor es so weit war, wurde der Mischa dann aber von seinen eigenen Leuten erschossen, und das nicht mal mit Absicht. »Nach ner ganzen Flasche Wodka zielt man halt nicht mehr so gut«, lachte mein Großvater und stach sich mit dem ausgestreckten Zeigefinger in den Nacken, dahin, wo die Kugel den Mischa angeblich getroffen und den halben Kopf zerfetzt hatte.
    Mein Großvater liebte es, seine Zuhörer so richtig schön mit Blut und Eiter einzuseifen, bis ihnen von all dem Grauen die Augen überliefen. »So was kennt ihr heitzudach jo bloß noch vum Fernseher«, sagte er dann und musterte einen von oben bis unten, sodass man die eigene Verweichlichung förmlich in den Kniekehlen spürte. Keine Härte des Lebens konnte es mit der Härte seines Lebens aufnehmen. Durch Zuspätgeborensein hatte man schon versagt. Trotzdem mochte ich seinen »Kriesch«
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