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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken
Autoren: Sarah Stricker
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sagt doch alles! Glücklich!« ins Süddeutsche geheiratet hatte.
    Meine Großmutter war damals 18 Jahre alt, sechs davon hatte sie im Krieg verbracht, zwei weitgehend auf der Straße gelebt. Und mindestens zehnmal so lang hatte sie nicht mehr geschlafen. Als die Cousine ihr die Tür öffnete, war sie so müde, dass ihr nicht mal mehr das Hirschgeweih über der Eckbank einen spitzen Kommentar entlockte. Sie war schwach und hungrig, trotzdem noch ganz hübsch, abgesehen von den Knochen, die sich wie Angelhaken durchs Fleisch drückten, aber die hatte mein Großvater auch. Und nach ein paar Wochen, in denen sie wahlweise die überhäkelten Klopapierrollen der Cousine und die Kunststücke von Rottweiler Hasso hatte bestaunen müssen, kam auch ihre Überheblichkeit zurück.
    »Isch wäß ned«, murmelte Derhelm beim Antrittskaffee.
    »Bissel iwwerkandiddelt, findste ned?«, sagte seine Frau Gundula (die Gundl). Aber die Mutter meines Großvaters, meine Urgroßmutter, war ganz begeistert von der guten Kinderstube, die meine Großmutter in die ihre brachte. Mit großen Augen betrachtete sie die nach hinten gedrückten Schultern, den geraden Rücken, folgte der Tasse, die meine Großmutter so leicht zum Mund führte, dass es aussah, als würden ihre Lippen sie gar nicht berühren, bis ihr vor lauter Bewunderung selbst der kleine Finger vom Henkel sprang. »Wenn nicht die, dann weiß ich nicht«, raunte sie meinem Großvater zu, und ganz ehrlich, das wusste er auch nicht.
    Zum Glück starb die Cousine dann auch bald, warum auch immer, waren ja alle irgendwie krank und ohnehin schon halb tot, sodass Nägel mit Köpfen gemacht wurden. Mein Großvater hatte sich noch nicht ganz die Knie vom Antragstellen abgewischt, da hielt meine Großmutter schon den Koffer in der Hand, bereit, sofort einzuziehen. Und mit ihr ein Hauch von Kultiviertheit. Sie brachte meiner Urgroßmutter »dessen« bei und Geschmack, »von gutem soll gar nicht die Rede sein«, die Kittelschürzen wichen Blüschen und Röcken, in denen so viel Stoff steckte, dass der Schäfer Marie, die als Einzige im Dorf eine Nähmaschine hatte, die Verschwendung im Herzen weh tat. Und zum Dank setzte sich meine Urgroßmutter das Ziel, »dass des Mädel widder was uf ihr Rippe grischd.« Am Mittag duftete das Haus nach Kuchen, den meine Großmutter jeden Tag etwas weniger damenhaft von den neuen Ziertellerchen schlang, bis ihre Knochen wieder völlig im Fleisch verschwunden waren. Und noch ein bisschen weiter. Und dann noch etwas weiter. So sehr sie sich auch mahnte, ihre Herkunft nicht zu vergessen  – was Sattsein bedeute, fiel ihr nie wieder ein. Als meine Urgroßmutter eines Tages das nach Mottenkugeln riechende Hochzeitskleid aus dem Schrank holte und ihr überstülpen wollte, blieb es auf halber Strecke stecken.
    Aber auch die Süße des Ehelebens konnte meiner Großmutter die Angst nicht ersetzen. Sie war immerzu nervös, zehrte ihren Körper mit sinnlosen Panikattacken aus, gönnte ihm kaum Schlaf, geschweige denn Vergnügen, und er rächte sich so gut er eben konnte. Vor meiner Mutter hatte sie zwei Fehlgeburten, ein drittes Kind starb nach ein paar Tagen im Brutkasten. Sie hatte solche Angst, das vierte könne ihr auch noch verlustig gehen, dass sie meiner Mutter nicht von der Seite wich. »Ich kann nicht anders«, jammerte sie, wenn Diegundl mal wieder in der Brigitte gelesen hatte, dass das gar nicht gut sei. »Sie ist doch alles, was ich habe.«
    Viel war es nicht. Schlimm genug, dass sie mit meinem Großvater teilen musste, aber sie war nicht bereit, sonst noch jemandem etwas abzugeben. Meine Mutter verbrachte in ihrem Leben genau zwei Stunden im Kindergarten, eine Stunde fünfundvierzig davon auf dem Schoß meiner Großmutter, die es einfach nicht über sich brachte, die kleine, weiße Hand loszulassen. Die Kindergärtnerin musste den von all der Furcht selbst schon zitternden Körper förmlich aus den Armen meiner Großmutter herauswinden. Sie setzte meine Mutter in die Puppenecke, zog sich eins der Stühlchen heran und redete auf meine Großmutter ein. Sie kenne ja den schmerzhaften Prozess des Abnabelns, aber ein Kind müsse ein Gefühl für sein Ich aufbauen, sich abgrenzen, blablabla. Sie hatte einen asymmetrischen Haarschnitt, der den Blick auf einen  – »einen!«  – Papageienohrring freigab, und diese leise, einfühlsame Art, »so wie in diesen linken WG s, in denen alle auf dem Boden hocken und einander ausreden lassen.« Meine Großmutter
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