Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken
Autoren: Sarah Stricker
Vom Netzwerk:
herzzerreißender Song, kein verpasster Bus, kein noch so kleines Unglück schaffte es, das so viel größere freizusetzen. Und jeden Tag, an dem weiter alles gut war, wurde es schlimmer.
    Ich versuchte so verzweifelt, ihren Tod zu fassen zu kriegen, sie zu fassen zu kriegen, in der Hoffnung, sie dann loslassen zu können, endlich, endlich trauern zu können, dass ich begann, ihre Geschichte aufzuschreiben. Weil Schreiben eben das ist, was ich tue.
    Und fragte mich bei jedem Satz, warum es das ist, was ich tue. Weil ich es will? Weil sie es wollte? Weil ich eben doch auch die Tochter meines Vaters bin und um jeden Preis wollen wollte, was sie wollte?
    An den Wochenenden saß ich die ganze Zeit vor dem Bildschirm, auch wenn ich oft nur ein, zwei Absätze zu Stande brachte. Dann ging es eines Sonntags gar nicht mehr weiter. Man könnte es Schreibhemmung nennen, zumindest wenn man nicht die Tochter meiner Mutter ist, die auf eine solche Bemerkung nur spöttisch »Hemmungen hat man, wenn man sich vor etwas fürchtet. Und du willst mir ja wohl nicht erzählen, dass du Angst davor hast, ein paar Worte hinzutippen« erwidert hätte. Auch oft genug erwidert hat, wenn ich mich mal wieder mit einen Artikel gequält oder endlich doch eine Kurzgeschichte zu Papier zu bringen versucht hatte: »Stell dich nicht so an, das sind doch nur Worte«, hatte sie gerufen und dabei die Finger über eine unsichtbare Schreibmaschine tanzen lassen, hatte mir wieder auf die Stirn geschlagen. Aber je älter ich wurde, desto seltener hatte diese Methode funktioniert.
    Ich beschloss, ein bisschen spazieren zu gehen. Luft zu schnappen. Auf andere Gedanken zu kommen.
    Aber alles, an was ich denken konnte, war meine Mutter, und dass ich sie nicht wirklich denken konnte, dass ich die eine und die andere in meinem Kopf nicht zusammenbrachte, dass etwas fehlte, ein Verbindungsstück, an dem ich Realität und Erzählung miteinander verhaken könnte.
    Ich setzte mich in den Park, beobachtete ein paar Kinder, die mit nackten Hintern über die Wiese rannten, hörte die Musik vom Flohmarkt und folgte ihr auf das Gelände. Ich ging an den Ständen entlang, griff hie und da in eine der staubigen Kisten. Kaufte einen Armreif, der früher mal ein Suppenlöffel war. Sammelte zwei, drei Bilderrahmen ein, um ein paar der Fotos aus dem Album aufzuhängen, weil ich mir einbildete, sie könnten mir beim Schreiben womöglich auf die Sprünge helfen, brachte die Rahmen aber, als der Verkäufer pro Stück zehn Euro verlangte, wieder zurück.
    Und dann berührte mich plötzlich etwas am Ausschnitt.
    Ich fuhr zusammen, kreuzte unwillkürlich die Arme vorm Oberkörper. Aber die Hand schien sich gar nicht für meine Brust zu interessieren. Stattdessen zog sie die Münze nach oben, die ich, seitdem ich die Kette wiedergefunden hatte, fast jeden Tag trug, und drehte sie hin und her.
    »Das ist ja noch eine von den alten«, sagte der Mann an der Hand und strich mit dem Daumen über die »5«.
    »Äh, ja, kann sein«, sagte ich, ein bisschen verwirrt, wollte dann aber auch nicht unhöflich sein und schob »aus den 60ern, glaub ich« hinterher.
    Der Mann zog die Münze noch näher an seine Augen, sodass ich unfreiwillig auf ihn zu stolperte. »Als ich klein war, hat mir meine Oma so eine immer vor Klausuren gegeben.«
    »Ach, als Glückbringer?«, fragte ich, ein bisschen verlegen, weil ich ihn schon fast mit dem Kinn berührte.
    Das Geldstück fiel zurück in meinen Ausschnitt. »Ja, genau«, sagte er. Seine Brauen zogen sich zusammen.
    »Ich, äh, ich hab so was mal irgendwo gehört«, sagte ich schnell, und, weil er mich noch immer überrascht ansah, »kommen Sie aus Russland?«
    »Aus der Ukraine«, murmelte er und griff hinter sich. Er zog einen Energy Drink aus einer Tüte und drückte den Metallverschluss mit einem Zischen nach innen. Ich schaute ihm zu, wie er trank, sah ihn zum ersten Mal richtig an. Sein Hinterkopf war schon ziemlich kahl. Dafür fiel ihm das restliche Haar in einem langen Pferdeschwanz auf den Rücken. Sein Gesicht war von einem ungepflegten, borstigen Bart bedeckt, der ihn ziemlich finster wirken ließ, aber seine Augen waren auffallend hell. Ich fragte mich, ob man ihre Farbe als gelb bezeichnen könnte, aber tatsächlich schienen sie mir eher blau, wie die eines Huskys.
    Er legte den Kopf in den Nacken, machte ein Hohlkreuz, als wolle er keinen Tropfen vergeuden. Dann drückte er die Dose zusammen und warf sie an mir vorbei in die Tonne.
    »Suchen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher