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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken
Autoren: Sarah Stricker
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sie zu irgendwelchen letzten Worten zusammen, die sie später auf der Beerdigung wiedergeben könnte.
    Ich hatte meiner Mutter versprechen müssen, meiner Großmutter nichts von ihrem Zustand zu sagen, solange sie noch lebte, aber das tat sie jetzt nicht mehr. Das Leben war aus ihr gewichen, noch ehe der Tod da war.
    Eine Stunde fuhren ihre Pupillen ziellos durchs Zimmer. Das Lächeln hing sich immer weiter durch. Dann bäumte sie sich plötzlich auf. Ihre Augen traten aus den Höhlen, irgendetwas begann zu ticken. Die Schwester rannte herbei und dann auch einer der Ärzte.
    Sie bräuchten Platz, sagte er und schob sich an uns vorbei, um irgendeine Spritze in die Kanüle zu drücken. Aber meine Großmutter drängte immer wieder zurück zum Bett, versuchte fieberhaft einen Zentimeter Haut zu fassen zu kriegen, sodass ich den, trotz Trauerdiät, noch immer stattlichen Leib förmlich ins Wartezimmer zerren musste.
    Wir setzten uns auf die gesprenkelten Stühle, gaben einander die Hände, an denen der beißende Geruch des Desinfektionsmittels hing, der mich die letzten Wochen begleitet hatte und mir auch später jedes Mal in die Nase steigen würde, wenn ich an meine Mutter dachte, was so gut zu ihr passte, dass ich mich auch dabei fragte, ob ich mir das nur ausgedacht hatte.
    Ein paar Meter weiter wartete eine türkische Familie. Die Kinder rutschten auf dem Fußboden herum, ließen sich gegen den Automaten krachen. Die Frauen in der Mitte schrien abwechselnd eines von ihnen an oder schluchzten, der Unterschied war kaum herauszuhören. Ich starrte auf das Gemälde gegenüber, irgendwelche abstrakte, nach dem großen Ganzen suchende Kunst. Dann kam die Schwester und winkte mich zu sich.
    »Sie können jetzt wieder reinkommen«, sagte sie und schaute dabei so überdeutlich zu mir, dass ich mich berechtigt fühlte, das nächste meiner Mutter gegebene Versprechen zu brechen und meiner Großmutter erlaubte, meinen Vater anzurufen, nur um sie ein Weilchen beschäftigt zu wissen.
    Meine Mutter war wieder bewusstlos. Nur die Maschinen neben ihr blinkten wie Spielautomaten. Ich sah den Arzt an, wusste nicht, was ich jetzt tun sollte. Was war der Plan? Wie geht es in solchen Situationen üblicherweise weiter?
    Aber er sagte, das sei hier keine amerikanische Fernsehserie, ich bräuchte weder einen Knopf zu drücken, noch irgendwelche Formulare zu unterschreiben. Meine Mutter habe sich gegen jedwede Form lebensverlängernder Maßnahmen entschieden. Sie gäben ihr jetzt noch mal etwas gegen die Schmerzen. Und damit gut. Er sah ins Nebenzimmer, wo offenbar der andere Teil der türkischen Familie dabei war, sich zu verabschieden. Eine schwarz gekleidete Frau warf sich über den Körper, der starr unter dem Deckbett lag. Der Arzt kratzte sich an der Stirn und rollte mit den Augen. Meine Mutter hätte ihn gemocht. Und als ich merkte, dass ich von ihr in der Vergangenheit dachte, nickte ich. Auch wenn ich es nicht musste.
    Er legte mir die Hand auf den Ellenbogen. Einen Moment lang betrachtete ich seine langen, völlig geraden Finger. Nur die Innenseite des Mittelfingers war ein wenig eingedrückt, sodass sich die Haut auf der Oberseite wölbte, wie bei einem Erstklässler, der gerade Schreiben lernt und den Füller noch wie einen Wanderstock zusammenpresst.
    Dann hörte meine Mutter zu atmen auf.
    Wir standen da, mehrere Minuten lang, bis er endlich die Hand von meinem Arm zog und mich mit nach draußen nahm.
    Der Papierkram dauerte lange. Aber ich war froh, nicht so schnell zurück ins Zimmer zu müssen, wo Arno und meine Großmutter die türkische Familie zu überbieten versuchten, letztere mit solchem Einsatz, dass sie zum ersten Mal seit Jahren wieder einen waschechten Asthmaanfall zustandebrachte. Sie war nicht in der Lage, sich hinters Steuer zu setzen. Also nahm ich ihren Wagen und fuhr erst sie, dann meinen Vater nach Hause, endlich mich selbst. Es war ein schöner Tag, der Himmel wolkenlos. An jedem Zebrastreifen musste ich für Spaziergänger halten.
    Die Luft im Inneren heizte sich auf. Der widerliche Ledersitz, den mein Großvater alle paar Wochen mit Schuhcreme eingerieben hatte, klebte an meinen Oberschenkeln, aber nach all den Wochen, die ich weitgehend in der Dunkelheit der Intensivstation verbracht hatte, war es geradezu angenehm, mal wieder zu schwitzen. Der Wagen fuhr wie von selbst, während ich wie eine Eidechse starr hinter der Scheibe hockte und darauf wartete, dass die Sonnenstrahlen meine Glieder auftauten.
    Ich
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