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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken
Autoren: Sarah Stricker
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Oberarm legen, schon wimmerte sie auf wie ein Hündchen, dem man auf den Schwanz getreten hat. Ich wusste, dass der Doktorfreund das Personal bei unserer Ankunft darum gebeten hatte, die krankenhauseigene gute Laune ein wenig runterzudrehen, und die meisten hielten sich daran, zollten ihm unübersehbar Respekt, dabei war es nicht mal seine Station.
    Ab jetzt müssten andere entscheiden, was das Beste für meine Mutter sei, hatte er in der Nacht gesagt, als es endlich nicht mehr ging und ich den Krankenwagen rief. Aber er sah trotzdem jeden Tag nach ihr, manchmal zwei, drei Mal, sprach mit ihren neuen Ärzten, warf einen Blick in das Krankenblatt, und danach kam er zu mir und versuchte hartnäckig, mir den Medizinerkauderwelsch zu entwirren, dabei hörte ich ihm kaum zu. Es war mir egal, ob ihr Hämoglobinwert 10 oder 100 oder 1000 war, ob ihr Urin an einem Tag eher ins Gelb- oder ins Grünstichige ging. Es interessierte mich nicht, wie die einzelnen Drähte und Kabel miteinander verschweißt waren, welche Zelle welches Hormon produzierte oder blockierte, damit der Organismus funktionierte. Ihrer tat das nicht mehr. Mehr brauchte ich nicht zu wissen.
    Ob ich irgendwelche Fragen habe, endete er regelmäßig seinen Monolog, während ich genauso regelmäßig den Kopf schüttelte. Ich bin mir sicher, dass er meine Sprachlosigkeit als ein Zeichen von Beherrschung wertete, wie die Tochter, so die Mutter, aber in Wahrheit fiel mir einfach nichts zu sagen ein. Das Einzige, was ich wollte, war seine Stimme hören. An manchen Tagen klang sie zuversichtlich, fast stolz, als sei es nicht zuletzt sein Verdienst, dass meine Mutter einen ganzen Plastikbeutel mit Urin gefüllt hatte. An anderen schien sie sorgenvoller, schwächlich, sodass ich mich schon, während er sprach, vor ihrem Verstummen fürchtete. Aber alles, was ich hätte sagen können, um ihn am Reden zu halten, hätte nur offenbart, dass ich zuvor nicht aufgepasst hatte. Und um das zuzugeben, war ich dann doch zu sehr die Tochter meiner Mutter.
    Abgesehen davon sprachen wir nicht viel miteinander. Wenn meine Mutter gerade gewaschen wurde, wenn er zu Besuch kam, setzten wir uns zusammen vor den Süßigkeitenautomaten und warteten auf den lila-grau-gesprenkelten Stühlen, die ganz so aussahen, als seien sie nur zu dem Zweck entworfen, dass sich der Blick zwischen den stecknadelgroßen Wollschlaufen verirren und so ein wenig Ablenkung finden könne. Er hatte nie etwas dabei, kein Buch oder eine Zeitung, um sich irgendwie zu beschäftigen, rieb sich immer nur die Hände, als würde er frieren. Einmal fragte ich ihn, wie meine Mutter als Ärztin gewesen sei.
    »Die Beste«, antwortete er sofort. Sie habe alle Antworten gewusst, keiner der Oberärzte habe es je geschafft, sie dranzukriegen. »Am Ende des ersten Jahres ist einer mit einer Fibromyalgie gekommen. Zwanzig verschiedene Wehwehchen, war müde, depressiv, alle haben ihn für einen Hypochonder gehalten. Aber sie ist als Einzige drauf gekommen: Weichteilrheuma!« Er lachte. »Sie war einfach unschlagbar.«
    »Und sonst?«, fragte ich.
    Aber er schüttelte nur den Kopf. »Nichts sonst«, sagte er, und das hätte ich mir eigentlich denken können.
    Dann ging es ihr eines Morgens plötzlich besser. Als ich sie vor der Arbeit besuchen kam, hob sie den Kopf, richtete sich sogar ein wenig auf und ließ sich von mir ein Kissen in den Rücken stopfen, während sie mir freudestrahlend ihre Augen zeigte, die jetzt endlich auch gelb waren, »weil das Bilirubin durch den Verschluss der Gallengänge nicht mehr abtransportiert wird«, wie sie sagte, und »mein Gott, ich weiß ja, dass du nicht Medizin studiert hast, aber schad’t doch nicht, wenn du wenigstens ein bisschen was bei der ganzen Sache lernst!«
    Sie fragte, wie es in der Redaktion laufe, ob ich endlich mit einem Roman angefangen habe, wieso nicht, erzählte von einem der Assistenzärzte, der sich besonders gut um sie kümmere und bei dem sie sich gerne erkenntlich zeigen würde.
    »Gehste morgen im Geschäft vorbei und lässt dir einen Coupon geben, zwanzig Prozent auf alle Sommerware«, trug sie mir auf. »Und wenn du schon mal da bist, nimm gleich ein paar mehr mit, die Sargträger freuen sich sicher auch.« Sie schmunzelte. »Sagen wir für die nur zehn Prozent, so arg schwer haben sie’s ja nicht mehr.«
    »Wir sind heute aber gut drauf, was?«, sagte eine Schwester, die ich noch nie gesehen hatte, und drehte an einem Rädchen. Ich nahm mir vor, den Freund zu
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