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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken
Autoren: Sarah Stricker
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plötzlich dramatisch verschlechtert, irgendein Spiegel sei gefallen, ein anderer gestiegen, Herzrasen, Schweißausbrüche.
    »Wir mussten die Morphiumdosis stark erhöhen«, sagte er und rieb sich die sommersprossigen Arme. Aber, fuhr er fort, nachdem er mir die Vor- und Nachteile haargenau auseinandergelegt hatte, aber man dürfe sich nichts vormachen: »Wir müssen uns auf das Schlimmste gefasst machen.«
    »Ich dachte, das Schlimmste hätten wir schon hinter uns«, sagte ich, aber das zeigte nur, wie wenig ich tatsächlich zugehört hatte. Diesmal nicht ihm, sondern meiner Mutter. Denn jetzt begann das Warten. Stunde um Stunde um Tag um Woche, endloses, nervenaufreibendes, unerträgliches Warten.
    Sie selbst war zu dem Zeitpunkt schon völlig weggetreten, schien selbst dann noch zu schlafen, wenn sie eine Sekunde lang doch die Augen öffnete.
    Die neue Schwester, die schon nicht mehr neu war, versuchte, sich um mich zu kümmern. Immer wieder kam sie ins Zimmer, brachte mir ein Kissen, dann einen Kaffee, schwärmte von meiner Mutter, mit diesem Glühen unter den Lidern, das ich in diesen ersten Wochen dauernd sehen und das mich am Ende ganz verrückt machen sollte, dieses Funkeln, das für die Toten reserviert ist, ganz beseelt von Dankbarkeit, den Verstorbenen gekannt zu haben. Dankbar, glücklich und ein bisschen dümmlich. Aber so sieht Glück ja meistens aus.
    »Wir müssen uns auf das Allerschlimmste gefasst machen«, sagte der Freund wieder.
    »Aber wie ist das denn möglich, es ging ihr doch besser?«, fragte ich, jetzt doch.
    Es sei durchaus nichts Ungewöhnliches, dass Patienten im Endspurt noch mal alle Kraft zusammenkratzen würden, sagte er, ein letztes Aufbegehren, bevor alles vorbei sei.
    Ob es etwas Ungewöhnliches sei, dass sie kurz vor Schluss Gefühle zeigten, oder auch das nur ein Symptom der Krankheit, wollte ich fragen, tat es aber nicht.
    »Es wird jetzt sehr schnell gehen«, fuhr er stattdessen fort, und feuerte mal wieder eine Medizinersalve auf mich ab, Metastasierung in der Lunge, Cholestaseparameter, CA 19–9, CA 50 und CEA , Aszites, Dyspnoe, ARDS , Leberversagen, »wahrscheinlich ist es nur noch eine Frage von Stunden.«
    Aber versagen konnte meine Mutter noch immer nicht.
    Die erste Woche kam der Doktorfreund noch genauso oft, dann heiratete seine Tochter in Amerika, und er musste weg. Er entschuldigte sich mindestens vier Mal, bevor er flog, und schickte mir noch eine Email aus Chicago, um mir zu sagen, dass ich ihn unter der Telefonnummer der Eltern seines zukünftigen Schwiegersohns erreichen könnte. Falls ich irgendwelche Fragen hätte.
    Ich blieb also alleine an ihrem Bett, wartete darauf, dass ich weinen würde, zusammenbrechen, dass mir irgendeine angemessene Reaktion einfiele. Aber die Keimfreiheit eines Krankenhauses macht es einem nicht eben leichter, sich von Gefühlen übermannen zu lassen. Also versuchte ich, mir wenigstens alles einzuprägen, sodass ich das Fühlen irgendwann nachholen könnte, die Kälte ihres Arms unter meiner Handfläche, die farblosen Wimpern, die Wand, die genauso farblos war, das silbrige Haar auf dem Kopfkissen, das Gesicht der Schwester, die ihr die tägliche Heparinspritze setzte. Aber wenn ich ehrlich bin, habe ich die meisten dieser Bilder wahrscheinlich erst nachträglich hinzugefügt, habe sie den wenigen echten Erinnerungen an die Seite gestellt, damit sie nicht in sich zusammenfielen. Ich schnitt den Tod in Stücke, feilte daran herum, schmolz ihn ganz ein und goss ihn in eine handlichere Form, in der das blubbernde Chaos zu einem Teil meines Gedächtnisses erkalten konnte. Das, was dabei herauskam, ist so gleichförmig und blank poliert, dass meine Mutter nirgendwo mehr darin zu sehen ist. Dass es genauso gut der Tod einer andern Frau sein könnte. Aber vielleicht ist das bei allen Erinnerungen so. Nur macht es einem sonst weniger aus.
    Einmal wachte sie noch kurz auf. Ihre Werte hatten sich so weit stabilisiert, dass die Ärzte das Morphium wieder etwas runterfuhren. Aber sie war schon nicht mehr die Alte. Als ich das Zimmer betrat, waren ihre Lippen in ein breites Lächeln gespannt, das jedoch augenscheinlich nicht mir galt. Sie schien mich nicht mal mehr zu erkennen. Die wenigen Worte, die sie zu sagen versuchte, waren völlig unverständlich, und ich wusste, dass es nichts gebracht hätte, einen Sinn darin zu suchen, dass sie nichts mehr zu sagen hatte. Nur meine Großmutter rutschte auf dem Boden herum und las die Laute auf, legte
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