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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken
Autoren: Sarah Stricker
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ich mir tagsüber machte. Oder vielleicht auch, die sie mir machte. Wer kann das nachträglich schon noch sagen.
    Meine Mutter war ganz vernarrt in die Zukunft, mehr in meine als ihre, aber das war für sie sowieso dasselbe. Später war immer alles besser. Sie liebte es, Pläne zu schmieden, wie wir mal sein würden, wo wir mal sein würden, stürzte sich kopfüber in den Konjunktiv und riss mich mit, ohne Rücksicht darauf, dass ich noch kaum im Indikativ stehen konnte.
    Auf früher hatte sie hingegen wie gesagt keine Lust. Für den Teil waren meine Großeltern zuständig, die die Vergangenheit ohnehin schon so eifersüchtig unter sich aufteilten, dass es kaum auffiel, wenn meine Mutter nur schweigend daneben saß. Sie überließ es ihnen, mich mit Legenden zu füttern, das Bild von ihr zu formen, das mir über die Jahre hinweg so vertraut wurde, dass ich nie auf die Idee gekommen wäre, es neben die Realität zu halten. Ich sah nicht die Widersprüche, so sehr sie mir auch hätten ins Auge springen müssen. Sah nur, was ich sehen wollte. Machte es zur Wahrheit.
    Aber sie machte mit mir natürlich das Gleiche.

20. Kapitel
    Vielleicht hätte ich mich mehr darüber freuen sollen, dass zumindest eine von uns die Chance hatte, das Bild von sich ein wenig geradezurücken. Also natürlich eigentlich schiefzurücken. Aus dem Rahmen zu reißen. Darauf herumzutrampeln und stattdessen neue Farbe an die Wand zu klatschen, direkt auf die Tapete, sodass sie sich auch ja nicht mehr abwaschen ließe. Aber tatsächlich war ich im ersten Moment einfach zu wütend auf meine Mutter. Wütend, dass sie mir das alles nicht früher erzählt hatte. Und natürlich war ich nicht wirklich wütend. Wie hätte ich denn wütend sein können, sie lag ja immerhin im Sterben. Also war ich bestürzt, dass sie das alles so lange mit sich rumschleppen musste. Und natürlich war ich auch nicht bestürzt, man konnte meiner Mutter ja nicht mit Bestürzung kommen, das grenzte ja fast schon an Mitleid. Ich war traurig und verwirrt und vor allem war ich erschöpft, unglaublich erschöpft, als sei ich die Kranke und nicht sie. Morgens schaffte ich es kaum aus dem Bett, wollte einfach nur immer weiter schlafen. Aber das ging natürlich am allerwenigsten. Ich konnte sie ja nicht alleine lassen, durfte nicht riskieren, einen kostbaren Moment zu versäumen, jetzt, wo jeder Tag ihr letzter sein konnte.
    »Es geht zu Ende«, sagte ihr Charitéfreund, als sie schließlich ins Krankenhaus eingeliefert wurde, weil die Punktierung nicht zu Hause durchgeführt werden konnte. Da waren wir erst auf Höhe des gerissenen Kondoms, und ich ertappte mich dabei, beim Weiterdenken der Geschichte auf alle verfügbaren Klischees zurückzugreifen, sodass ich mich eines Abends vorm Spiegel sogar davon überzeugte, eine außergewöhnlich große Nase zu haben.
    »Wie lange noch?«, fragte ich den Arzt.
    »Nicht mehr lange«, sagte er, »es geht jetzt langsam mit ihr zu Ende.«
    Aber meine Mutter war zu hart für einen sanften Abgang.
    Statt ein paar Stunden verbrachte sie Wochen auf der Intensivstation, magerte schrecklich ab, sah aus wie ein Gerippe, abgesehen von dem kugelrunden Wasserbauch. So schnell wie sie gekommen war, zog die von der Krankheit geliehene Schönheit sich wieder zurück und ließ eine graue Hülle zurück, in der das Leben kaum noch zu erkennen war.
    »Bis zu meinem Geburtstag bist du mich los«, sagte sie und lächelte ein Lächeln, von dem ich gar nicht wusste, dass sie es hatte. All die Jahre hatte sie es in ihrem Mund aufbewahrt, als habe sie nur auf den richtigen Moment gewartet, es zu tragen.
    Tatsächlich starb sie zwei Tage vor ihrem Fünfzigsten, viel zu jung, wie jeder der Anwesenden auf der Beerdigung mindestens einmal sagte. Womit sie wenigstens ihrem Lebensmotto treu blieb.
    Eines Nachmittags, ungefähr eine Woche, bevor ihr Herz tatsächlich zu schlagen aufhörte, hatte sie das Bewusstsein verloren.
    In den Tagen zuvor waren die Schmerzen schlimmer gewesen denn je. Sie bekam Fentanylpflaster und Tramalkapseln und Morphin, das sie die meiste Zeit in einen nervösen Schlaf versetzte. Jedes Mal, wenn sie erwachte, brauchte sie mehrere Minuten, bis sie zu zittern aufhörte, die Panik noch in den Augen. Ich tupfte ihr die klatschnasse Stirn ab, aber sie wand sich so, dass ich die Schwestern rufen musste, um das aufgeweichte Laken unter ihr auszuwechseln. Wenn sie sie anhoben, schien es ihr nicht ganz so wehzutun, aber ich musste nur die Finger um ihren
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