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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken
Autoren: Sarah Stricker
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bitten, das Thema Erste Person Plural ebenfalls anzusprechen, aber meiner Mutter schien nicht mal das noch etwas auszumachen.
    Als seien sie Sitznachbarn auf einem Ausflugsdampfer, plauderte sie los, erkundigte sich nach dem Wetter, nach dem Gatten, den Kindern, stellte, sich plötzlich meiner Gegenwart erinnernd, endlich auch mich vor.
    »Und das ist der Unfall, von dem ich Ihnen erzählt habe«, rief sie und lachte sich kaputt, als die neue Schwester betreten zu Boden schaute.
    Ich wandte mich ab, probte in meinem Kopf mal wieder den Monolog, mit dem ich ihr ein für alle Mal die Meinung sagen würde. Aber als wir wieder allein waren, fuhr meine Mutter sofort mit dem Erzählen fort, schon so daran gewöhnt, dass ihr nicht mal auffiel, dass ich diese letzten Geschichten schon kannte. Die, wie mein Vater sie in den ersten Jahren meiner Kindheit wieder und wieder angefleht hatte, ihn einen Teil meines, oder auch ihres?, ja, ja, ist ja gut, aber wenigstens einen Teil meines Lebens sein zu lassen. Die, wie sie ihm schließlich erlaubt hatte, mich regelmäßig zu sehen. Die, wie die Krankheit meines Großvaters immer schlimmer wurde und er nur noch vor sich hinbrabbelte, vom Krieg, von Russland, ein paarmal auch von einem der Fräuleins, deren Namen meine Großmutter jedoch standhaft nicht verstand. Wie die noch mehr zu fressen begann, immer fetter wurde, bis sie erst ihn und dann auch sich selbst nicht mehr alleine aufrichten konnte. Wie nur sein Tod ihr das Leben rettete, weil sie, als er fluchend, gurgelnd, röchelnd wie eine Maschine, der das Öl fehlt, endlich abtrat, das Essen von einem Tag auf den anderen einstellte und innerhalb eines Jahres zwanzig Kilo verlor.
    Nur die Geschichte vom Ausbruch ihrer eigenen Krankheit war neu, davon, wie eines Tages dieser Schmerz da gewesen sei, der sie jede Pore ihres Körpers spüren ließ, zum ersten Mal seit all der Zeit. Wie sich die ersten zwei Ärzte sicher gewesen waren, es sei Stress und nicht mal irgendwelche Tests durchgeführt hatten. Wie meine Mutter, als der dritte endlich doch ein Pankreaskopfkarzinom gefunden hatte, in die Bar gegangen sei, in der Max sich gerade auf die nächste fristlose Kündigung zukellnerte, und ihm vorschlug, das Geschäft zu übernehmen, »damit es wenigstens in der Familie bleibt.«
    »Un was is mit der Anna?«, hatte Max gefragt.
    Aber meine Mutter hatte abgewiegelt.
    »Nein, nein, die hat schon andere Pläne«, sagte sie und arbeitete ihn heimlich ein, »auch wenn ich schnell kapiert hab, dass ich mir das eigentlich auch hätte sparen können. So wie der sich anstellt, geht das Ding eh den Bach runter. Aber was soll man machen?« Sie stöhnte ein wenig. »Ich sag dir, in zwei Jahren kann sich niemand mehr daran erinnern, dass es Mode-Schneider je gab.«
    »Na komm«, sagte ich, »vielleicht überrascht er ja alle.«
    Aber meine Mutter schüttelte den Kopf. »Einmal Loser, immer Loser«, sagte sie und lachte schon wieder.
    Sie bat mich, nach meiner Großmutter zu sehen, dann scheuchte sie mich aus dem Zimmer, damit ich nicht zu spät zur Arbeit käme.
    »Ich hab dich lieb«, sagte ich, drückte ihr einen Kuss auf die Wange, gerade so viel Zärtlichkeit, wie sie gewachsen war.
    »Ich dich auch«, hörte ich, als ich mich gerade wegdrehen wollte. Oder zumindest glaube ich das gehört zu haben.
    Ich setzte mich in die U-Bahn, fuhr zur Arbeit, wollte gerade in den Fahrstuhl steigen, als der Anruf kam, ich solle besser umkehren.
    Es klingt immer nach Hollywood, wenn jemand just in dem Moment stirbt, in dem er seine Lebensbeichte beendet hat. Oder genau dann, wenn er endlich, endlich den Mut gefunden hat, den Menschen zu zeigen, was er fühlt. Aber dass es das tut, ist nur die Schuld von Menschen wie meiner Mutter. Menschen, die all die Liebe und das Leid und das Glück und den Hass nur aushalten, wenn sie das Leben komplett durchrationalisieren, wenn sie einem einreden, Filme seien Filme und Bücher nur Bücher, dass Beerdigungen im strömenden Regen und Geigen beim ersten Kuss, dass jene Momente, bei denen Form und Inhalt perfekt ineinanderfallen, nur Erfindung seien. Aber in Wahrheit ist das Leben kitschig. Viel kitschiger, als man sich das ausdenken könnte.
    Oder auch nicht.
    Was weiß denn ich.
    Ich weiß nur, dass meine Mutter in dem Moment, in dem ich das Krankenhaus betrat, das Leben einstellte. Auch wenn ihr Körper noch eine Weile ohne sie weitermachte.
    Der Doktorfreund wartete schon am Eingang. Ihr Zustand habe sich ganz
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