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Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition)
Autoren: Tim Willocks
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KAPITEL 1

D IE T ÖCHTER
DES B UCHDRUCKERS
    Tannhäuser ritt durch ein Land, das der Krieg verwüstet und die schwere Nachkriegszeit ausgeblutet hatte, ein Land, wo die unbezahlten Söldner pflichtvergessener Könige noch immer ihr schreckliches Handwerk ausübten, wo Freundlichkeit als Narrheit galt und Grausamkeit als Stärke, wo niemand mehr glaubte, sein Bruder wäre sein Hüter.
    Er kam an Galgen vorüber, wo rotbeinige Krähen schwarz und aufgedunsen saßen. Er kam an Grüppchen von zerlumpten, halb verhungerten Kindern vorüber, die ihn schweigend anstarrten. Er kam an den dachlosen Gerippen ausgebrannter Kirchen vorüber, wo Splitter von buntem Glas wie vergessene Kostbarkeiten auf dem Boden des Altarraums lagen. Er kam an Ansiedlungen vorüber, die nur noch von abgenagten Knochen bewohnt waren und wo die gelben Augen der Wölfe aus der Dunkelheit schimmerten. Ein lodernder Heuhaufen erhellte in der Ferne einen Hügel. Im Mondlicht lagen zu Asche verbrannte Weinberge so bleich da wie Grabsteine.
    Er hatte mehr Meilen in weniger Tagen zurückgelegt, als selbst er es für möglich gehalten hätte. Und hier war er nun endlich, und da lag die Stadt vor ihm. Ihre Mauern schienen in der Ferne zu beben, waren von der Hitze der Augustsonne verzerrt. Über allem hing finster ein ockergelber Dunst, als wären diese Mauern gar keineMauern, sondern vielmehr der hochgewölbte Rand eines unendlichen Abgrundes, der in die Unterwelt führte.
    Dies war sein erster Eindruck von Paris, der katholischsten aller Städte.
    Der Anblick spendete ihm kaum Trost. Die unguten Vorahnungen, die ihn vorangetrieben hatten, waren nicht vergangen. Er hatte am Straßenrand geschlafen und stets lange vor der Morgendämmerung wieder im Sattel gesessen, und doch hatte ihm jeden Morgen sein Schicksal erneut vor Augen gestanden. Mattias Tannhäuser spürte, wie es hinter diesen Höllenmauern auf ihn lauerte. Hier in der Stadt Paris.
    Tannhäuser preschte weiter zum Tor von Saint-Jacques. Die Mauern ragten hier dreißig Fuß in die Höhe und waren dicht mit Wachtürmen besetzt, die noch einmal so hoch waren. Das Torhaus war wie die Mauern vom Alter gezeichnet und mit Vogeldreck besudelt. Als er die Zugbrücke überquerte, trieb ihm der stechende Gestank verrottenden Mülls, der sich im Graben häufte, Tränen in die Augen. Wie im Traum sah er verschwommen und schwankend zwei Familien durch den Torbogen kommen.
    Sie waren in Schwarz gekleidet, und er hielt sie für Hugenotten. Oder Calvinisten, Lutheraner, Protestanten oder sogar Reformierte. Er hatte nie herausgefunden, wie er diese Leute nennen sollte. Ihre neue Sichtweise auf die Beziehung der Menschheit zu Gott war noch jung, und doch bekämpften die verschiedenen Strömungen innerhalb dieser Bewegung einander bereits bis aufs Blut. Für Tannhäuser, der für mehr als eine Religion im Namen Gottes getötet hatte, war dies allerdings keine Überraschung.
    Die Hugenotten, darunter auch Frauen und Kinder, wankten unter einer Unmenge von Beuteln und Bündeln. Tannhäuser fragte sich, wie viel mehr sie zurückgelassen hatten. Die beiden Männer, die aussahen, als wären sie Brüder, wechselten erleichterte Blicke. Ein magerer Junge verrenkte sich den Hals und starrte Tannhäuser an. Der rang sich ein Lächeln ab. Der Junge verbarg das Gesicht in den Röcken seiner Mutter. Dabei entblößte er ein großes rotes Muttermal im Nacken. Die Mutter sah, dass Tannhäuser es bemerkt hatte, und bedeckte das Mal mit der Hand.
    Tannhäuser lenkte sein Pferd zur Seite, um den Leuten denDurchgang zu erleichtern. Der ältere der Brüder, den dieser Akt der Höflichkeit erstaunte, schaute auf. Als er das Malteserkreuz auf Tannhäusers schwarzem Leinenhemd sah, senkte er den Kopf wieder und eilte vorüber. Als seine Familie ihm auf dem Fuß folgte, schaute der kleine Junge erneut zu Tannhäuser auf. Seine Züge erhellten sich zu einem plötzlichen, schüchternen Grinsen. Das war für Tannhäuser der willkommenste Anblick seit vielen harten Tagen. Dann stolperte der Junge, und seine Mutter packte ihn beim Arm und zerrte ihn weiter.
    Tannhäuser schaute der Gruppe nach. Die Leute waren schlecht ausgerüstet für die Straßen, auf denen beträchtliche Gefahren lauerten, aber zumindest waren sie Paris entkommen, so schien es.
    »Viel Glück.«
    Tannhäuser erhielt keine Antwort.
    Er ritt weiter, unter dem ersten von zwei Fallgittern hindurch und ins Torhaus hinein, wo ein Zöllner zu sehr damit beschäftigt war,
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