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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken
Autoren: Sarah Stricker
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parkte im Halteverbot, ohne Not, einfach weil ich das Gefühl hatte, das Recht dazu zu haben. An der Tür beschloss ich, doch noch nicht gleich nach oben zu gehen. Stattdessen bog ich nach links, in Richtung Arkaden, um mir irgendein schwarzes Kleid zu kaufen. Wieso warten, dachte ich.
    Als meine Mutter bei mir eingezogen war, mit nicht mehr als einem Müllbeutel mit Nachthemden und Unterwäsche und einer fast genauso großen Tüte voller Medikamentenschachteln, als klar wurde, dass das keine Krankheit war, die irgendwann vorübergehen würde, hatte ich mir einen graumelierten Damenanzug bestellt, Jackett und Hose, aus echter Wolle, und einen Rollkragenpulli für darunter. Das heißt, in Wahrheit war es sie, die mir eines Abends den Katalog hingehalten hatte, ein Eselsohr in der betreffenden Seite, »den kannst du auch noch zu einem Vorstellungsgespräch anziehen« gesagt und keine Ruhe gegeben hatte, bis ich die Nummer des Versandhauses wählte.
    »Nimm 24-Stunden-Lieferung, man kann nie wissen«, hatte sie aus dem Schlafzimmer gerufen, während ich der Dame am anderen Ende der Leitung meine Maße diktierte. Damals war es um die fünf Grad kalt gewesen, keiner von uns hatte in Betracht gezogen, dass sie bis zum Sommer durchhalten würde.
    Als ich mit der Einkaufstüte nach Hause kam, stand mein Vater vor der Tür, das Gesicht wundgeweint. Genau wie damals, als er meine Mutter zurückwollte. Oder zumindest so mitleiderregend, dass ich das Bild kopierte und später an der Stelle vor seinem Zurückeroberungsversuch wieder einfügte, die sie in Wahrheit wohl gar nicht groß beschrieben hatte. Und wenn, dann wohl eher mit irgendeiner Beleidigung wie »du kennst ja deinen Vater, die alte Heulsuse« oder »erbärmlich, einfach nur erbärmlich!«
    Er habe sich gedacht, dass ich sicher nicht alleine sein wolle, sagte er und meinte natürlich, dass er nicht alleine sein wollte. Ich schob ihn ins Wohnzimmer und machte erstmal einen Tee, weil ich dann wenigstens »ich mach erstmal einen Tee« sagen konnte. Dann teilten wir die Nummern untereinander auf, die angerufen werden mussten. Wir schafften alle an einem Nachmittag.
    Ilse, noch immer lebendig, noch immer alleinstehend, noch immer kaum auszuhalten vor grenzenloser Zuversicht, kam am nächsten Abend. Während der Fahrt vom Bahnhof begann auch sie davon zu sprechen, was für ein wunderbarer Mensch meine Mutter gewesen sei, wie schnell sie jede Formel hatte knacken, jedes Rätsel lösen können. Wie fleißig sie war! Wie diszipliniert!! Und wie vernünftig!!! Dieselben Lobeshymnen, die ich schon tausendmal gehört hatte, nur dass sie jetzt noch einen Haufen weiterer Eigenschaften auf die Liste setzen wollte, »empfindsam«, »verletzlich«, »sensibel«, lauter Dinge, die man in meiner Familie sonst auf die Seite mit dem minus vornedran geschrieben hätte, allen voran meine Mutter selbst.
    Die Beerdigung fand an einem Freitag statt. Meine Großmutter war nur mit Mühe dazu zu bringen gewesen, meine Mutter wenigstens neben und nicht im selben Grab wie meinen Großvater bestatten zu lassen. Dafür erzählte sie jedem, dass der Sarg, den sie ausgesucht hatte, einer der besten war, den man für Geld kriegen konnte. Helm musste von Max gestützt werden, so betrunken war er, sogar für seine Verhältnisse.
    »Glaub mir«, sagte Babsi am Arm ihres Klinikleiters, »von jetzt an wird es jeden Tag etwas besser«, auch das genau wie damals. Oder auch nicht.
    Aber die Wahrheit war: Es war schon gut. So sehr sich auch alle ins Zeug legten, mich wieder aufzurichten  – ich war gar nicht zu Boden gegangen. Ich war nicht mal verletzt, litt nicht, höchstens vielleicht unter meiner Großmutter, der schließlich aufgegangen war, dass die Rolle ihres »Ein und Alles« jetzt wohl mir zukam. Aber den Verlust selbst konnte ich noch immer nicht fühlen. Ich konnte ihn sehen und hören, die ständigen, lauwarmen Nachfragen, wie und ob es noch gehe, die Einladungen zu irgendwelchen Unternehmungen, die mich ablenken sollten, das verständnisvolle Nicken, wenn ich ablehnte. Aber die Trauer wollte sich einfach nicht einstellen. Halb ungeduldig, halb ängstlich, machte ich mich darauf gefasst, dass sie in einem unbemerkten Moment aus der Deckung springen und über mich herfallen würde, so wie es bei früherem Leid gewesen war. Wenn mich zum Beispiel ein Freund verlassen hatte und ich ausgerechnet dann, wenn ich mir sicher war, ihn vergessen zu haben, plötzlich losgeheult hatte. Aber kein
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