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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken
Autoren: Sarah Stricker
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ausruhen?« Aber meine Mutter plapperte einfach weiter, als habe sie mich gar nicht gehört, sprang an den Anfang zurück, um irgendein Detail zu ergänzen, verzettelte sich in Banalitäten, die im Rückblick schöner und größer, mickriger, hässlicher, schrecklicher oder sonst wie zugespitzt werden mussten, bis sie zum Scheitelpunkt im Leben taugten. Anderes, Wichtiges erzählte sie gar nicht, oder ich reimte es mir nur zusammen, malte die dürren Umrisse später mit eigenen Bildern aus, zu denen ich in meiner Erinnerung ihre Stimme hörte, auch wenn die im Präteritum etwas holperte. Solange ich denken kann, hatte meine Mutter immer nur über die Zukunft gesprochen. Erst jetzt, wo die zusammenschnurrte wie ein Planschbecken, wenn man am Ende des Sommers den Stöpsel zieht, fand sie plötzlich Geschmack an der Vergangenheit. Nur die Gegenwart rührte sie bis zuletzt nicht an.
    Meine Mutter war zu hässlich, um der Schönheit lange nachzutrauern. Nur hübsche Mädchen verbringen Stunden vorm Spiegel, um ihre Makel auswendig zu lernen wie Vokabeln, die sie auf ein Kompliment hin runterrattern. Sie hingegen war nicht bereit, mit ihrem Aussehen zu hadern. Damit hätte sie ihm nur noch mehr Aufmerksamkeit gegeben. Und das hatte »die alte Fratze« ja nun wirklich nicht verdient.
    »Lass gut sein«, sagte sie, wenn ich ihr meinen Lippenstift anbot, »da ist Hopfe und Malz verloren.«
    »Schad’t doch nicht«, erwiderte ich, aber zum Schminken war sie nicht zu bewegen. Sie behauptete, ihre Lippen seien zu rau, nichts sei widerlicher als Hautfetzen, unter denen sich Farbe sammle. Behauptete, die Haut könne unter dem »Kleister« nicht atmen. Von Wimperntusche würden ihr die Augen tränen.
    Aber das Schlimmste war, wie sie sich anzog. Bei der Arbeit nahm sie sich noch zusammen: Kostüm, weiße Bluse, Pumps. Aber wenn sie nach Feierabend zur Tür reinkam, ließ sie alle Hemmungen und Hüllen fallen. Noch halb im Flur riss sie sich stöhnend die Kleider vom Leib und rannte erstmal eine halbe Stunde in Unterwäsche herum, sodass ich etwaige Freundinnen, die sich doch mal zu uns nach Hause trauten, schnell in meinem Zimmer versteckte. Erst wenn sie vollends ausgekühlt war, willigte sie ein, ein altes Paar Shorts meines Vaters überzuziehen, unter denen ihre verdellten Oberschenkel herauslugten wie frisch aufgegangener Hefeteig. Obenrum Achselshirts, die sie im Fünferpack kaufte und so lange trug, bis sie sich auflösten. Und natürlich nie einen BH . Weil sie der Spitzenbesatz angeblich am Rand wund scheure. Wenn sie schwitzte, und wann tat sie das nicht, klammerten sich ihre Brustwarzen an den nassen Stoff, wie Kinder an ihre Eltern in einer wogenden Menschenmenge. Sie stellte ihre Hässlichkeit richtiggehend zur Schau. »Stolz« sagte sie. »Trotz« hörte ich. Ihr Haar schnitt sie selbst, hinten lang genug, um es mit einem Küchengummi zusammenzuwurschteln, vorne rappelkurz, sodass ihr eilig zusammengeschraubtes Gesicht den Blicken schutzlos ausgeliefert war. Aber es war das Gesicht meiner Mutter, und ich liebte es. Zumindest bis ich es in meinem wiederentdeckte.
    Bei meinem Großvater war es genau umgekehrt. Das Einzige, was ihn am Äußeren meiner Mutter interessierte, waren die Spuren, die er darin hinterlassen hatte. Von Schönheit hielt er nichts. Die sah Oberflächlichkeit viel zu ähnlich. Und wenn er eins nicht ausstehen konnte, dann oberflächliche Menschen, »bei Gott«, auch wenn er den noch weniger ausstehen konnte. Er war fest davon überzeugt, dass einem jungen Menschen nichts Besseres passieren könne, als »ein bisschen Sand im Getriebe«, das bilde den Charakter, »vorausgesetzt natürlich, die Anlagen stimmen«, wie er der Schwester, die meine kleine Mutter aus dem Bettchen hob, mit vor Selbstgewissheit in die Stirn wachsenden Brauen erklärte. Er schob seine Brille auf die Nase und betrachtete das bisschen Körper, das sie ihm entgegenhielt, die kümmerlichen Beinchen, den Rumpf, so lang und dürr und zerbrechlich, dass man befürchten musste, der Kopf könne jeden Moment abfallen, vor allem einer wie der meiner Mutter. »Än Kopp wie än Pferdearsch. Sooo groooß«, sagte er und streckte die Arme von sich wie ein Grieche beim Sirtaki.
    Angeblich, so will es zumindest die von meinem Großvater gepflegte Legende, fehlte meiner Mutter bei der Geburt jene Delle, die »gewöhnliche Kinder« am Kopf haben, jene Knochenlücke, die den Schädel biegsam hält, bis das Gehirn ausgewachsen ist. Dadurch soll
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