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Die gelehrige Schuelerin

Die gelehrige Schuelerin

Titel: Die gelehrige Schuelerin
Autoren: Ira Miller
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1. Kapitel
Die Rolle des Lehrers
    Ich stehe erst am Anfang meines Lebens.
    Als ich noch ein Kind war, fuhr meine Mutter mich zur Schule, wenn es regnete. Ich bekam ein Taschengeld, das jedes Jahr zu meinem Geburtstag erhöht wurde, genoss ausgewogene Mahlzeiten, die ich manchmal sogar verschmähte, und war, trotz aller Versuche, mich in der Schule radikal zu verhalten und mit den Hippies solidarisch zu erklären, nichts weiter als das Produkt einer behäbigen, abgesicherten Mittelschicht in einer Vorstadt.
    Im College bezahlte mein Vater die Rechnungen. Ich nahm an den Vorlesungen teil, schrieb Aufsätze, bestand Prüfungen und führte vier Jahre lang ein behütetes Leben mit dem simplen Zweck, das Examen zu machen. Als das vorbei war, fühlte ich mich aus dem Mutterleib in eine kalte, fordernde,
reale
Welt gestoßen. Ich war alles andere als darauf vorbereitet. Ich absolvierte eine Ausbildung als Lehrer.
    Als auch diese Schule vorbei war, fühlte ich mich wieder verängstigt und von der Unabhängigkeit bedroht. Ich suchte nach Halt bei den Freunden von der High School. Aber wir fielen immer wieder in die Verhaltensweisen von damals zurück. Kartenspielen, Baseball, Drogen, Kneipenbummel. Dabei kam ich mir vor wie ein Teenager, nicht wie ein Erwachsener. Meine Familie hätte mir helfen können, aber ich konnte nicht mehr bei ihr leben – abhängig wie ein kleines Kind! Außerdem musste ich Arbeit finden, richtige, einem Erwachsenen angemessene Arbeit. Nicht irgendeine. Sie musste mit dem etwas zu tun haben, das ich studiert hatte, und ich musste mich in ihr verwirklichen können. Wozu hatte ich sonst studiert?
    Und plötzlich konnte ich nicht mehr nur mit
irgendwem
schlafen. Ich hatte Verlangen nach einer tiefen, beständigen Beziehung.
    Kindheit, Jugend und Studium waren nur ein leicht zu absolvierendes Vorspiel gewesen. Ein erwachsener Mann zu sein und dabei unverheiratet, sehr einsam und voller Zweifel, schien mehr der Realität zu entsprechen.
    Dabei half es auch nicht viel, der nette jüdische Junge aus New York zu sein, der in Dillistown, Oregon, unterrichtete und unkontrollierbar einen Steifen kriegte.
    Wenn die nach süßem Parfüm duftenden Mädchen, ihre eben erblühenden Busen unter sorgfältig ausgewählter Kleidung versteckend, das Klassenzimmer betreten, grüßen sie gewöhnlich: »Guten Morgen, Mr. Lester.«
    An dieses »Mister«gerede kann ich mich nur schwer gewöhnen. Einen winzigen Augenblick lang spüre ich dann immer den Drang, über meine Schulter nach hinten zu linsen, um nachzusehen, ob mein Vater dort steht. Vielleicht, in zehn Jahren, wenn ich fünfunddreißig bin, werde ich mich an das »Mr. Lester« gewöhnt haben. Aber heute hätte ich nichts dagegen, einfach nur »Arnie« genannt zu werden, so als ob ich ein Freund wäre und nicht der Allmächtige, der Zensuren verteilt.
    Doch die Kinder dürfen sich mit meinem Vornamen nicht vertraut machen. Nicht in einer Schule, in der jeden Morgen Treue auf die Fahne geschworen wird, die Schüler immer noch eine schriftliche Erlaubnis brauchen, um aufs Klo gehen zu dürfen, und der Direktor den Tag mit einer inspirativen Andacht über die Lautsprecheranlage beginnen lässt. Auch meine Kollegen, alle in schulmäßigem Sinne absolut integer, würden einen Anfall bekommen, wenn sie zufällig auf dem Gang eine Teenagerstimme »Was ist los, Arnie?« piepsen hörten. Die Kinder brächten das sicher fertig, wenn man sie lassen würde, aber durch nichts unterbrochene Traditionen (der Direktor trägt eine Krawatte) schnüren ihnen die Kehlen zu.
    Am Montag, den 27. November 1978, schloss ich morgens die Tür zu meinem Klassenzimmer auf, schaltete das Licht ein und: wumm! – direkt durch beide Nasenlöcher ins Hirn – Dillistowns hochgradig reinigendes, antiseptisches Bohnerwachs! Die meisten Schüler aus der elften Klasse, die ich in der ersten Stunde unterrichtete, schleppten sich nach einem langen Wochenende herein, kaum fähig, das Kinn über der Tischplatte und die Augenlider offen zu halten. Ich richtete mich auf, zauberte ein eifriges An-die-Arbeit-Lächeln auf mein Gesicht und sagte: »Bitte setzt euch. So schlimm kann es doch nicht sein. Wir haben heute viel zu tun.«
    Viel lieber hätte ich gesagt: »Ich bin auch müde. Lasst uns erst mal ausschlafen.«
    Aber stattdessen: »Öffnet die Bücher. Seite hundertsiebzehn … Wer kann mir etwas über Benjamin Franklins Beitrag zur amerikanischen Literatur sagen?« Keine Antwort. »Okay. Vielleicht finde
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