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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken
Autoren: Sarah Stricker
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viel lieber als den meiner Großmutter, der einen über nicht aufgegessenem Blumenkohl hinweg mit vorwurfsvollen Augen ansah. Manchmal, wenn ich mich langweilte, was in meiner Familie unter Höchststrafe stand, begann ich nach dem Mittagessen sogar absichtlich ein bisschen über die Hausaufgaben zu nörgeln, nur um ihn dazu zu bringen, wutentbrannt von Kasan loszulegen und mich »Jammerlappen« bis auf den letzten Tropfen Selbstmitleid auszuwringen. Mein Großvater war ein hervorragender Erzähler. Im Laufe der Jahre hatte er seine Geschichten an den Reaktionen des Publikums so lange geschliffen, dass die Sätze wie die Zacken eines Zahnrads ineinandergriffen. Er wusste, wo er einen Schreckensschrei herauskitzeln konnte und wo er etwas zurückhalten musste, um es in dem Moment, in dem die Zuhörer sich in Sicherheit wähnend wieder ihrem Käsekuchen widmeten, aus einem Nebensatz herausplatzen zu lassen. Dabei schwoll seine Stimme immer weiter an, während er abwechselnd mit der Handfläche im Takt auf die Tischplatte schlug oder die Faust in die Höhe reckte, wie man das damals noch tun durfte, und sich über das Schauern freute. Nur manchmal, wenn ich oben bei meinen Großeltern schlafen durfte, weil meine Mutter mal wieder in eine Filiale musste, schreckte ich schweißgebadet auf, weil seine von russischen Brocken durchsetzten Schreie bis in meine Träume drangen.
    Über so was wurde natürlich nicht geredet. Am Anfang, weil die Zeit fehlte. Musste ja losgewundert werden. Mein Haus, mein Auto, mein Imperium. Später nicht, weil man dann hätte zugeben müssen, dass man jetzt eigentlich welche hatte, Zeit, und soviel davon, dass mein Großvater noch ein halbes Jahr, bevor sein Alzheimer so schlimm wurde, dass er seinen eigenen Namen vergaß, beschloss, Herrenmode ins Sortiment aufzunehmen, nur um die leeren Stunden irgendwie zu füllen. Nichts war in meiner Familie schlimmer als Zeit. Außer die, die man nicht hatte und/oder einem weglief, die mochten alle, Beweis der Emsigkeit, die einen Schneider erst zum Schneider macht. Die andere, hässliche, die mit dem F-Wort vornedran, kam nur in Zusammenhang mit der Außenwelt zur Sprache, jenen verachtenswerten Geschöpfen da draußen, die ihre »Freizeit« in Cafés oder auf Liegewiesen verplemperten, anstatt eine Fremdsprache zu lernen oder ein Atom zu spalten. Wenn überhaupt, gab es höchstens Pausen, nicht Zeit, nur den Spalt, wenn die fehlende von zwei Seiten aneinanderstieß. Und selbst die hieß es um jeden Preis zu vermeiden. Am Ende war man sonst abends vielleicht noch frisch und munter und musste sich die vorwurfsvollen Blicke der anderen gefallen lassen, die selbst von tiefen, wohlerschufteten Augenringen gezeichnet waren. Müdigkeit war in meiner Familie eine harte Währung. Wer nach zehn noch die Augen aufhalten konnte, hatte sich nicht genug verausgabt. Und da konnte einem nicht mal mehr Hässlichkeit helfen.
    Drei Dinge hatte mein Großvater im Krieg gelernt (so wie es in seinen Erzählungen immer drei Dinge gab, wie gesagt, er wusste, wie man eine Geschichte erzählt). Das Erste war, dass Stillstand den Tod bedeuten kann. Seinem Freund, mit dem zusammen er auf dem Foto im Esszimmer den rechten Arm in die Luft reckte, beide so voller Tatendrang, dass es sie fast aus dem Rahmen riss (der jedoch trotz wiederholter Veilchenkärtchenerinnerungen meiner Großmutter »nicht einmal!« zum Essen kam, weil er Kasan nicht ganz so lustig in Erinnerung behalten hatte wie mein Großvater), war ein Zeh abgefroren, als er sich während der Arbeit kurz auf einen Stein gesetzt hatte. Das war meinem Großvater eine Lehre. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich ihn in meiner Kindheit je länger als zehn Minuten habe stillsitzen sehen. Müßiggang war für ihn ein Virus. Er lauerte vor dem Fernseher, in Zeitschriften, in ungemachten Betten, in die man allzu leicht schnell zurückschlüpfen konnte, in Wannen, am meisten in Schwimmbädern. Und wenn man sich so einen Virus erst mal eingefangen hatte, war es schwer, ihn wieder loszuwerden. Einmal zu lange geblinzelt, und schon erging es einem wie dem Max, Helm und Gundls Sohn, eigentlich ein lieber Junge, bis man ihn eines Sommers von seinem Ferienjob im Laden entbunden und stattdessen auf eine »Jugendfreizeit! Wenn ich so ebbes bloß här! Die junge Leid machen doch ehs ganze Johr nix anneres wie frei« geschickt hatte, während der er den Drogen und infolgedessen der Kunst verfiel, schließlich nach Berlin zog und Maler sein
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