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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken
Autoren: Sarah Stricker
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um die Blicke auf sich zu ziehen, seine eigene Visitenkarte sei. In Wahrheit passte ihm die Kleidung von der Stange einfach nicht. Mein Großvater war ziemlich klein. Wenn er auf seinem Lederstuhl im Büro saß, hingen seine Beine in der Luft. Auf dem Hochzeitsfoto haben sie ihn auf eine Stufe gestellt, damit er neben meiner Großmutter mit ihren Stöckelschuhen nicht unterging, aber am Ende war es doch wieder er, der das Bild beherrscht. Er trägt einen Frack, weiße Fliege, Lackschuhe, die halb von dem Rock meiner Großmutter verdeckt sind, dazu ein breites, gestelltes Grinsen, von dem ihm das Blut in die Nase steigt. Im Hintergrund ist eine Marmortreppe zu sehen, mit mächtigen Säulen an der Seite. Es dauert eine Weile, bis man merkt, dass sie nur gemalt ist, eine Leinwand, die im Studio des Fotografen hing. Meine Großmutter hingegen scheint zwischen all den zusätzlichen Rüschen, die die Schäfer Marie aufgenäht hatte, um die eingesetzten Stoffbahnen zu überdecken, fast zu ertrinken. Um ihren Hals hängt ein Kreuz, dem mein Großvater nur unter größtem Protest zugestimmt hatte. Sie hat den Arm bei ihm eingehängt und schaut ein bisschen zu ihm auf. Sein Grübchen ist noch kaum zu sehen, aber von Foto zu Foto wächst es, genauso wie die kahle Stelle auf seinem Schädel. Bei der Taufe meiner Mutter reicht ihm nur noch ein dünner Haarkranz von Ohr zu Ohr, bis sein Kopf ab Mitte des Fotoalbums auf einmal wieder von dichtem, leicht gewelltem Haar bedeckt ist, sogar dicker als das meiner Großmutter, die neben ihm herläuft. »Toulouse 1969«, steht auf der Rückseite in ihren winzigen Bleistiftbuchstaben. Dahinter hat sie ihre drei Namen geschrieben, als könne sie vergessen, wer sie sind.
    Mein Großvater posiert braungebrannt auf braunem Gras, nur in Shorts und Sandalen. Auf seiner Brust kräuseln sich ein paar verlorene Löckchen. Daneben hat das künstliche Haar etwas Groteskes, wie eine Fellkappe im Sommer. Obwohl er ganz ruhig dasteht, sieht es aus, als würde meine Großmutter neben ihm herrennen, die eine Hand in der Luft, um notfalls meine Mutter aufzufangen, die wie die Spitze einer Pyramide über ihnen beiden thront. Sie sitzt auf den Schultern meines Großvaters, die Hände auf seinen Augen, sodass nur sein offener Mund zu erkennen ist, der lacht oder schreit. Die Beine hat sie um seine Oberarme gewickelt, sodass man kaum sieht, wo sie anfängt und er aufhört. Fast wirkt es, als würde sie aus seinem Rücken wachsen. Sie trägt einen korallroten Badeanzug, dessen Ausschnitt so tief hängt, dass ihre hellbraunen Brustwarzen deutlich zu sehen sind. Unter der Butterbrotpapierhaut schimmern grünlich ihre Adern.
    Nur meine Großmutter beteiligt sich nicht an der Hautzeigerei. Sie trägt eine Seidenbluse und eine steife Tasche am Arm, als sei sie auf dem Weg ins Theater. Obwohl es ziemlich heiß gewesen sein muss, schimmern ihre Beine in einer Perlmuttstrumpfhose. Schon damals wiegt sie ein paar Pfund zu viel, aber noch täuscht ihre Eleganz darüber hinweg. Das blonde Haar ist zu einer Hochsteckfrisur aufgenadelt, aus der sich keine Strähne zu lösen wagt, die Haut darunter pudrig weich, als würde das Gesicht beim ersten Windstoß auseinanderstäuben. Im Gegensatz dazu wirkt mein Großvater, als sei sein Schnittbogen mit einer stumpfen Schere ausgeschnitten worden. Die Augenbrauen über den Kinderfingern meiner Mutter sind lang und struppig. Über seine Wangen haben die Tage fernab deutscher Steckdosen ein Netz aus schwarzen Stoppeln geworfen. Er hat einen eckigen Kiefer und endlich auch unverkennbar die Kerbe im Kinn. Die Zartheit meiner Großmutter lässt ihn größer wirken, als er ist. Sie ist weich, er ist hart, er dunkel, sie hell, und beide sind es umso mehr, je weniger es der andere ist. Ein schönes Paar. Nur heben sich plus und minus eben gegenseitig auf.

2. Kapitel
    Meine Mutter war zu hässlich, um dumm zu sein. Mit fünf konnte sie lesen. Vielleicht auch schon mit vier oder drei, das hing ganz davon ab, wie dringend mein Großvater es brauchte, auf sie stolz sein zu können. Niemand wusste, wo sie es gelernt hatte. Eines Morgens beim Frühstück nahm sie angeblich einfach die Zeitung in die Hand und begann, die Überschriften vorzulesen.
    »Meine Gene!«, rief mein Großvater, wobei seine Wangen leuchteten, wie bei dem Mädchen auf den Rotbäckchenflaschen, aber meine Großmutter hatte den Verdacht, dass er es ihr heimlich beigebracht hatte, während sie beichten war, das einzige
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