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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken
Autoren: Sarah Stricker
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Großwerre Zeit losst. Was hot er geschern noch emol so Drollisches gsacht? Mama, ich tann nur den Fuß von der Tatze sagen. Is des net drollisch, Oskar, jetzt sach doch emol, is des net drollisch?«
    Aber mein Großvater war nicht bereit, in die Begeisterung über das Mangelhafte, Defizitäre, die auf butterweichen Beinchen über den Boden schwankenden Schritte, den fast getroffenen Klositz, die nach schlechtgewordener Milch riechenden Rülpser, über diese ganzen kläglichen Menschwerdversuche mit einzustimmen.
    »Man hängt auch kein Kunstwerk ins Museum, bevor es fertig ist«, sagte er und holte meiner Mutter den Bunsenbrenner aus dem Schrank, um die von Gundl mitgebrachten Gummibärchen, wie in »Das große Chemie- ABC « beschrieben, in Kaliumchlorat explodieren zu lassen.
    Von Anfang an behandelte er meine Mutter wie eine Erwachsene in zu kurz geratenem Körper und jeder, der es nicht tat, musste sich solange vorhalten lassen, ihre Entwicklung zu gefährden, bis er sich zusammen mit dem »Wauwau? Ich geb dir Wauwau« kleinlaut trollte. In seinem Haus wurde nicht »Dada« gegangen oder »Kaka« gemacht, es gab kein Kinderprogramm, keine Kinderbücher, kein »dafür bist du noch zu klein.« Die Unschuld und Sorglosigkeit, von denen andere im Alter schwärmen, blieb meiner Mutter dank der unerschütterlichen Abwehr meines Großvaters fremd. Aber genauso entzog er sie auch der Dunkelheit, die an den Rändern der Kindheit wohnt, half ihr, das diffuse Durcheinander von Düften, Geräuschen und Bildern in seine Einzelteile zu zerlegen, bevor es Zeit gehabt hätte, zu einem Gefühl zu verklumpen. Meine Mutter wusste, dass die Pillen meiner Großmutter keine Bonbons, die Familie im Nachbarhaus nicht einfach so umgezogen und der besagte Zeh in Wahrheit nicht dem Freund vom Fuß gefroren war. Und mein Großvater stand immer bereit, um ihren Wissensdrang weiter anzustacheln.
    In den ersten Jahren passte kaum ein Blatt zwischen sie und ihn. Morgens lasen sie zusammen in der Rheinpfalz und er erklärte ihr den Schwachsinn, den Schmidt und Konsorten wieder verzapft hatten, auch wenn der ja eigentlich gar nicht zu erklären war, sozialistischer Jetset; der Kohl, alter Oggersheimer, das ist einer, den sie nach Bonn holen sollten. Nach der Schule kam sie ins Büro und aß mit ihm zu Mittag, und danach durfte sie meistens dableiben und Ware sortieren oder den Fräuleins die Bestellzettel abtippen, bis sie abends zusammen mit meinem Großvater nach Hause stapfte und ihm dabei die paar Stunden, die sie zwischendurch getrennt gewesen waren, bis aufs kleinste Fitzelchen nacherzählte, jeden Gedanken, jedes runtergefallene Butterbrot, jeden Schluckauf, alles, alles, erzählte, weil alles, was er nicht wusste, schon gelogen war.
    Er hörte ihr zu, stellte hie und da ein paar Fragen, und dann überschrieb er ihre Geschichten wieder mit seinen, die natürlich viel größer und viel schrecklicher klangen, sein Schluckauf war ein Epochenbeben, sein Butterbrot eine Handgranate, »das glaubst du aber, dass ich die nicht mehr aufgehoben habe, ich sag dir, so schnell hast du noch keinen rennen sehen.« Er nahm das Gerüst, das sie ihm gab, und zog sein eigenes Leben daran hoch. Und wenn meine Großmutter in der Nähe und ausnahmsweise mal nicht in einer Panikattacke gefangen war, klatschte sie auch noch eine Handvoll Mörtel drauf, bis die Streben vollends zugespachtelt waren.
    Andere Einflüsse, Nachkriegsgeborene etwa, die auch ein Problem unterhalb des Verhungerns hätten gelten lassen, gab es kaum. Der Kontakt zu Gleichaltrigen, die mit dem ganzen Schund, den ihr Kindermund kundtat, meine Mutter hätten verwirren können, musste so weit wie möglich vermieden werden. An ihren Geburtstagen lud mein Großvater seine eigenen Gäste ein, Männer, die gut zu seinen Zigarren passten, Wirtschaftswundler wie er, ehemalige Kameraden, Anwälte, Professoren, die statt Geschenken ihre letzte Publikation mitbrachten. Man saß um die Buttercremetorte meiner Großmutter, die die als Einzige aß, und schachtelte aufgeregt Thesen ineinander, die meine Mutter auf dem Schulhof so eifrig nachplapperte, dass sich das mit den Gleichaltrigen ohnehin erübrigte.
    Wenigstens blieb ihr so genug Zeit, sich ungestört ihren Talenten zu widmen. Und davon hatte sie so viele, dass mein armer Großvater sich in den ersten Jahren gar nicht entscheiden konnte, welche ihrer Gaben das ganze Gewicht seiner übersteigerten Erwartungen am meisten verdiente.
    Zuerst kam das
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