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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken
Autoren: Sarah Stricker
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Vergnügen, das sie sich bisweilen gönnte. Meine Mutter selbst behauptete, sie habe einfach die Aufschriften auf den Verpackungen auswendig gelernt und sich den Rest zusammengereimt, aber man wächst nicht im Haus meines Großvater auf, ohne ein gewisses Gespür für Legendenbildung zu entwickeln.
    Mein Großvater fuhr in die Stadt und karrte stapelweise Bücher an. Die Geschichte des alten Roms , Einführung in die Tierwelt in drei Bänden , einen Atlas, Harenbergs Schlüsseldaten Astronomie . Seine Auswahl war wahllos, aber üppig. Hie und da brachte er auch mal ein bisschen Belletristik mit, sofern ihm die Dame im Buchladen glaubhaft versichern konnte, dass sie zum Kanon der Weltliteratur gehöre und nicht von der Art, die man in der Hängematte überfliegt und einen am Ende selig seufzen lässt. Jeden Monat suchte er meiner Mutter drei Werke aus und trug ihr auf, sich jedem 30 Minuten am Tag zu widmen, was mit Häkchen auf einer Liste quittiert werden musste.
    »Sie kann doch noch nicht mal die Uhr lesen«, jammerte meine Großmutter, aber mein Großvater hörte gar nicht hin. Und meine Mutter sowieso nicht. Wann auch immer sie das Lesen gelernt haben mochte, meine Großmutter zu ignorieren, lernte sie früher.
    Abends wurden ihre Fortschritte kontrolliert. Über seinen dampfenden Teller gebeugt, feuerte mein Großvater eine Frage nach der anderen auf sie. Wie heißt die Hauptstadt von Burundi? Aus was besteht Wasser? Was ist 12 mal vier?
    »Lass sie doch erstmal essen«, quengelte meine Großmutter, »’s wird doch alles kalt.«
    »Drei, drei, drei …« rief mein Großvater.
    »… bei Issos Keilerei«, brüllte meine Mutter zurück. Zwischendurch schlug er sich auf den Schenkel oder ihr und rief »Hilde, das Kind ist ein Genie« oder »eine echte Schneider« oder einfach nur »Ich hab’s doch gesagt«, was eigentlich immer passte.
    Meine Großmutter kratzte mit der Gabel Ringe in die Kartoffeln und murmelte »Genie sein kann sie doch auch nachher noch.«
    Am Ende ließen sie sie alleine sitzen, um irgendein Land auf dem Globus zu suchen, das die Dagmar Berghoff auf ihrem gelben Zettel hatte, und meine Großmutter musste reihum die Teller leeressen, um auch ja nichts verkommen zu lassen, weil: »Als ich in deinem Alter war …«, später auch: »Die Kinder in Afrika …«
    Sonntags wurde durch Museen gerannt, danach Oper/Theater/Ballett, was eben gerade geboten wurde. Vom Stillsitzen schmerzten meinem Großvater die Glieder, als wäre er einen Marathon gelaufen, aber er betrachtete es als seine Pflicht, meine Mutter sowohl intellektuell als auch kulturell zu fördern, auch wenn er natürlich wusste, dass das in Deutschland praktisch unmöglich ist.
    Wann immer es sein randvoller, überquellender, eigentlich gar nicht zu bewältigender Zeitplan irgendwie erlaubte, musste verreist werden, »damit das Kind mal rauskommt aus diesem Mief«, wie mein Großvater sagte. Dank des Modehauses hatte er ein weit verzweigtes Netz von Bekannten überall im nichtkommunistischen Europa (und um den Rest war es in seinen Augen eh nicht schade, »eine Ansammlung durch und durch korrupter Staaten, Diebe, allesamt, vom kleinsten Natschalnik bis zum Minister!«, zumindest bis der eiserne Vorhang fiel und es plötzlich nichts Besseres mehr als den Osten gab, aber dazu später), die er regelmäßig besuchte, um die Ware zu begutachten, neue Verträge auszuhandeln, oder endlich mal wieder einen »gscheiten Kaputschkino zu trinken, die Brüh, die sie einem hier als Kaffee andrehn, ist ja nicht auszuhalten.« Und fast immer brachte er eine Einladung für die ganze Familie mit.
    Noch bevor sie richtig laufen konnte, sprach meine Mutter vier Fremdsprachen.
    »Fließend!«, rief meine Großmutter.
    »Fünf«, mein Großvater.
    Wieder fuhr er in den Buchladen, diesmal auf der Suche nach »irschenwas Auslännischem«, um das Gelernte zu vertiefen. Das Einzige, was die Dame auf Lager hatte, war ein Band über die Malerei der Renaissance mit französischen Bildunterschriften.
    »Nehm ich«, rief er und ließ sich, nicht, dass das Sprachlich-Schöngeistige am Ende Überhand nehme, auch noch »Mitgemacht, Mitgedacht  – Das Buch der 1000 Rätsel« einpacken, das meine kleine Mutter ihm jedoch schon am nächsten Tag fertig ausgefüllt auf den Kaffeetisch schob.
    »Heijeijei, das ist doch nicht normal«, rief die Gundl, »ein Kind muss doch auch noch Kind sein!« und »Isch sachs eisch, isch bin vun Herze froh, dass sisch moin Max mitm
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