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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten
Autoren: Thomas Pregel
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PROLOG
    Die Reise war ein einziger unschuldiger Rausch, und ich wünschte mir, sie wäre niemals zu Ende gegangen. Unbeschwerte Tage waren das, damals, noch bevor ich mein erstes Semester an der Universität Hamburg antrat. Damals fuhr ich für eine Woche nach Paris, um mir im Musée d’Orsay das Gemälde
Dante et Virgile aux Enfers
von William Adolphe Bouguereau anzusehen. Es zeigt zwei nackte Männer, einer rotblond, der andere schwarzhaarig, und der Rotblonde zieht dem Schwarzhaarigen den Kopf nach hinten, während er ihm sein Knie in den Rücken rammt, und beißt ihm in die Kehle. Sein Blick dabei ist hasserfüllt. Schräg rechts neben ihnen, zum Teil von den beiden verdeckt, liegt ein nackter toter Mann, seine Züge in Agonie erstarrt. Im rechten Bildhintergrund türmen sich unzählige weitere Menschen, Männer wie Frauen, alle nackt, zu einem gewalttätigen Leiberknäuel auf, bereit, alles zu tun, um nicht in den gähnenden Höllenschlund unter ihnen zu fallen, auch wenn das heißt, dafür den Nachbarn zu opfern. Alle sind sie nackt im Dunkel des Infernos und bereit, über Leichen zu gehen, um die eigene Höllenexistenz zu retten. Und über allen schwebt ein breit grinsender Dämon mit ausgebreiteten Flügeln und vor der Brust verschränkten Armen. Er schaut auf Dante und Vergil, die beiden einzigen angezogenen Menschen auf diesem Bild, die nur danebenstehen und erschrocken auf das Schauspiel starren. Überbordende Gewalt, unbegreifliche Grausamkeit und entsetzensschwere Schockstarre beherrschen dieses Bild und das ist, das dachte ich damals und denke ich heute noch immer, zutiefst menschlich.
    Meine Liebe zu diesem Werk resultiert aus einem Irrtum und dessen Berichtigung. Denn als ich es das erste Mal sah, mit vierzehn, abgedruckt in den von meinen Eltern abonnierten
Kieler Nachrichten
, wo es auf der einen täglichen Seite Kultur einen Artikel über ein Buch zum Klassischen Realismus Frankreichs illustrierte, nahm ich es ganz falsch war. Es mag am allzu kleinen Format gelegen haben, daran, dass man es nur schwarzweiß abgedruckt hatte, oder an der Pubertät, die mich bereits fest in ihrem Griff hielt. Was ich sah, waren zwei athletische Männer, von denen der eine den anderen leidenschaftlich auf den Hals küsste. Der Anblick elektrisierte mich und hielt mich selbst dann noch gefangen, als ich mir Wochen später in der Stadtbibliothek in einem dicken Bildband einen besseren Nachdruck ansah und die Wahrheit erkannte. Die Tiefe des Schreckens in der Darstellung faszinierte mich so sehr, dass ich die Seite mit dem Bild darauf aus dem Buch riss, mit nach Hause nahm und über meinem Bett an die Wand heftete. Tagtäglich starrte ich nun darauf und war bald fest entschlossen, eines Tages mindestens ebenso gut wie dieser Bouguereau malen zu können.
    Seitdem hat dieses Werk die unterschiedlichsten Bedeutungen für mich angenommen, habe ich es auf die verschiedensten Weisen interpretiert und immer wieder neu zu mir, zu meinem persönlichen Leben in Beziehung gesetzt. Ganz so, als wäre es ein Hologramm, das seine Farbe und Form mit dem Blickwinkel des Betrachters verändert. Was sich aber niemals geändert hatte, war mein Wunsch, es unbedingt einmal leibhaftig in Augenschein zu nehmen, es in den tageslichtgefilterten Räumen seines Museums an einer weiten Wand und aus der Menge aller anderen Gemälde herausstechen zu sehen. Dafür sparte ich mein Taschengeld, diesen Traum verwirklichte ich mir damals. Ich ging an jedem der sieben Tage ins Musée d’Orsay und verweilte immer mindestens eine Stunde vor Dante und Vergil in ihrer Hölle, ich erregte dabei sogar bald das wohlwollende Aufsehen der Wärter, ich sog das Bild tief, ganz tief in mich ein, um es hernach nie wieder zu vergessen. Ich ging auch in den Louvre und genoss Mona Lisas geheimnisvolles Lächeln, in das Musée de l’Orangerie, ins Centre Pompidou und in zig weitere Kunsttempel, aber zu Dante und Vergil in der Hölle kehrte ich immer wieder zurück.
    Glückliche Tage waren das. Tagsüber gab ich mich den Gemälden hin, nachts träumte ich in meinem Hotelbett von ihnen. Die Kunst war meine einzige Versuchung, um mich herum gab es nur Schönheit. Jene Reise damals war ein einziger unschuldiger Rausch, denn alle wurden durch sie nur bereichert und niemand verletzt. Tod und Hölle existierten nur in den Gemälden, nicht aber in mir. Es war eine echte Reise und keine Flucht. Nicht so wie heute. Und eigentlich ist auch das nur die halbe Wahrheit, denn eine
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