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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken
Autoren: Sarah Stricker
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wollte, wovon er erst wieder kurierte, als die subventionierte Faulheit zusammen mit der DDR abgeschafft wurde.
    Das einzige Mittel, um solchen Fällen vorzubeugen, war, ständig in Bewegung zu bleiben. Selbst beim Essen sprang mein Großvater unentwegt auf, sei es, um ein Buch zu holen, mithilfe dessen er die törichten Argumente seines Gegenübers widerlegen wollte, sei es, weil dringend ein aus dem rechten Winkel gerutschtes Möbelstück geradegerückt werden musste. Und wenn ihm gar nichts anderes einfiel, trieb ihn seine genauso nervöse Blase auf die Toilette, von der er mit noch offenem Hosenschlitz zurückgeeilt kam, um den angebrochenen Satz zu einem bösen Ende zu bringen, das Ganze mit einer Hektik, die in meiner Mutter schließlich zur Meisterschaft reifen sollte.
    Er ging nicht, er rannte. Er fuhr nicht, er raste. Er überlegte nicht, er wusste. Vor allem: es besser. In seinem Wortschatz gab es kein »Ich find e / glaub e / würde sagen«, kein »Ich bin der Meinung, dass«, nur: »Es ist.« Bisweilen watete er so tief in Allgemeingültigkeit, dass ihm die erste Person Singular vollends abhanden kam. »Selbstverständlich hat man getötet. Ist man stolz darauf? Nein. Würde man es wieder tun? Und ob.« Die Wirklichkeit musste sich an ihm messen, nicht umgekehrt. Es gab kaum ein Thema, bei dem er sich nicht auskannte, wobei seine Expertise von Erfahrung weitgehend ungetrübt war. Die dauerte ihm zu lang. »Ich muss keine Scheiße fressen, um zu wissen, dass sie scheiße schmeckt«, sagte er und gab einem die Antworten auf die drängendsten Fragen aus Politik und Geschichte, Biologie und Psychologie, was dasselbe war, aus Kunst, Musik, auch wenn keiner eine gestellt hatte.
    Aber am allermeisten wusste er übers Geschäftsleben. Das war das Zweite, was er im Lager gelernt hatte. Während der endlosen Märsche entlang der Wolga hatten seine Mitgefangenen neben all dem Stuss über irgendwelcher Mütter Essen, das man nicht mehr, und anderer Mütter Töchter, die man zwar nie wirklich, aber wirklich gern gehabt hätte, auch eine Menge Brauchbares erzählt. Mein Großvater lernte die deutschen Philosophen kennen, ein aus dem Elsass stammender Apotheker brachte ihm etwas Französisch bei, aber die meiste Zeit verbrachte er mit einem Fabrikbesitzer, der ihm systematisch Unterricht erteilte. Als ihn die Russen nach drei Jahren in den Zug nach Hause setzten, kannte er sich in Buchhaltung, Bilanzierung und Betriebsführung so gut aus, dass er meinem Urgroßvater bei seiner Ankunft erstmal erklärte, dass er alles falsch macht.
    Das Dritte und vielleicht Wichtigste, was er gelernt hatte, war, dass ein Traum nicht zu klein sein darf, wenn man in einer eiskalten Nacht darunter Zuflucht finden will. Vor dem Krieg hatte er sich nie sonderlich für das Geschäft seines Vaters interessiert. Jetzt sah er darin die Chance, sich etwas aufzubauen. Etwas. Was genau, war nebenläufig, Hauptsache er war an der Spitze davon, und natürlich musste es groß sein, groß, größer, am größten, auf jeden Fall größer als alles, was es bisher gab. Mein Großvater konnte sich gar nicht sattträumen an der Vorstellung, Frauen in Paris, in Rom, in London würden mit seinem Namen im Nacken durch die Gegend laufen. Erstmal musste er sich jedoch damit begnügen, Ware aus ihren Heimatländern zu importieren, um der deutschen Frau wenigstens zu ein bisschen Stil zu verhelfen, »und das war überhaupt die allergrößte Herausforderung!« Er hatte weder eine richtige Ausbildung noch Ersparnisse, aber einen eisernen Willen und das Glück, in eine Zeit geboren zu sein, in der das reichte. Als einer der Ersten erkannte er, dass Menschen, die nichts haben, vor allem das wollen, was sie nicht brauchen. Innerhalb von drei Jahren hatte er den Umsatz verdoppelt. Im fünften Jahr erschien der Katalog, von dem ich heute noch manchmal auf Flohmärkten zwischen alten Burdas und Erotikmagazinen voll haariger Achseln ein Exemplar finde. Am Ende des achten Jahres standen die Wimpel auf der Landkarte schon so dicht, dass von Süden nach Norden kaum ein weißes Fleckchen zu sehen war. Er nahm das Land ein, so wie auch sonst alles und jeden, und irgendwo unterwegs vergaß er selbst, dass er Mode im Grunde verabscheute.
    Er konnte stundenlang über Farbe, Schnitt und Qualität reden, vor allem über die, an der es bei der Konkurrenz haperte. Seine eigenen Anzüge waren alle maßgeschneidert  – angeblich, weil er, jetzt wo meine Großmutter nicht mehr da war,
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