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Himmel über Ostpreußen: Schicksalsjahre einer Familie (German Edition)

Himmel über Ostpreußen: Schicksalsjahre einer Familie (German Edition)

Titel: Himmel über Ostpreußen: Schicksalsjahre einer Familie (German Edition)
Autoren: Maja Schulze-Lackner
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1848

    S ehr früh war in diesem Jahr der Winter über Ostpreußen hereingebrochen. Innerhalb von ein paar Stunden war das Thermometer um 10 Grad gefallen. Obwohl erst Anfang November, versank das Land bereits im Schnee, und der eisige Ostwind trug dazu bei, dass kaum jemand Lust verspürte, die schützenden Mauern des Schlosses zu verlassen. Die Tag und Nacht von den Dienern befeuerten Kamine hatten Mühe, die hohen, weiten Räume ausreichend zu heizen. Es würde noch eine Weile dauern, bis sich die dicken Mauern erwärmt hatten und man sich im ganzen Schloss bewegen konnte, ohne ständig zu frieren. Die behaglichsten Zimmer waren die nicht allzu große Bibliothek, der Lieblingsraum des Schlossherrn, Horst Graf von Wallerstein, und der grüne Salon, ein mit Biedermeiermöbeln aus hellem Kirschholz eingerichteter Raum. Auf pastellfarbenen Smyrner-Teppichen standen mehrere Sitzgruppen, zierliche Stühle und Sessel, die mit beige-hellgrün gestreifter Seide bezogen waren. Vor dem großen Kamin gruppierten sich Sofas und Sessel und überall Tischchen mit Nippes, Silberschalen und üppigen Blumenarrangements aus dem schlosseigenen Treibhaus. Die hohen, von resedafarbenen Ripsportieren eingerahmten Fenster boten freien Blick auf den herrlichen, tief verschneiten Park. An den mit hellgrüner Seide bespannten Wänden hingen in Pastell gemalte Landschaftsbilder in ovalen Goldrahmen.
    Kurt, der Diener, war gerade dabei, den Teetisch vor dem Kamin zu decken, als Aglaia, die einzige Tochter der Wallersteins, mit ihrer Cousine Tanya von Ahlfeld in das Zimmer stürmte. Beide Mädchen hatten leuchtend rote Backen. »Puh, ist das kalt«, sagte Tanya und hielt ihre klammen Hände über das prasselnde Feuer. »Kaum bin ich angekommen, zerrst du mich schon hinaus in die eisige Kälte. Morgen setze ich keinen Fuß vor die Tür.«
    »Ach, stell dich nicht so an«, sagte Aglaia lachend. »Ein bisschen frische Luft hat noch keinem geschadet.« An den Diener gewandt fügte sie hinzu: »Wo ist meine Mutter, schläft sie noch?« Sie zählte die Tassen auf dem Teetisch. »Warum deckst du für fünf, bekommen wir Besuch?«
    »Ja, die Frau Gräfin erwartet die Frau Kommerzienrat Heller und die Baronin von Welsen.«
    »O Gott!« Die beiden jungen Mädchen rollten die Augen. »Bitte, Kurt, servier uns den Tee in der Bibliothek«, bat Aglaia. »Papa kommt ja erst morgen aus Berlin zurück.«
    »Is jut, mach ich«, sagte Kurt schmunzelnd »werd man noch tüchtich einheizen drüben, is ja bastich kalt heute.«
    Aglaia senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. »Weißt du was, Cousinchen? Wir werden den beiden alten Schabracken höflich guten Tag sagen und uns dann nach drüben verdrücken.«
    »Tante Wilhelmine wird das aber gar nicht recht sein«, sagte Tanya zweifelnd. »Du weißt doch, wie viel Wert sie darauf legt, dass wir mit ihren Freundinnen gepflegte Konversation machen. Hast du etwa Mademoiselle Claude vergessen?«
    »O Gott, nein, wie könnte ich! Wenn ich an die denke, packt mich immer noch das kalte Grausen.« Ihre Mutter hatte eines Tages die Idee gehabt, zusätzlich zum Privatlehrer eine Gouvernante einzustellen. »Die Mädchen müssen anständige Manieren lernen«, hatte sie ihrem Mann mitgeteilt. »Aglaia treibt sich ja nur noch im Stall herum oder reitet stundenlang über die Felder. Mich umweht hier von morgens bis abends dieser scheußliche Stallgeruch. Und Tanya vergräbt sich mit ihren Büchern in ihrem Zimmer.«
    »Und was ist daran auszusetzen?«, hatte der Graf gefragt. »Sie sind doch noch Kinder.«
    »Daran auszusetzen ist, dass sie einfach kein Benehmen haben. Wenn Gäste da sind, verdrücken sie sich, anstatt sich gesittet an der Unterhaltung zu beteiligen.«
    »Wahrscheinlich langweilen sie sich«, lachte der Graf, »und ehrlich gesagt, bei einigen deiner Freundinnen kann ich das auch verstehen.«
    Allen Einwänden zum Trotz wurde eine Gouvernante eingestellt. Ein ältliches, vertrocknetes Fräulein ohne jeglichen Humor, ein Musterbeispiel ihres Berufsstandes sozusagen. Sie war immer in Schwarz gekleidet, nur ein täglich frisches weißes Spitzenkrägelchen hellte die Trostlosigkeit ein wenig auf. Auf dem schütteren, zu einem Knoten gezurrten Haar, saß eine kleine Haube und auf der spitzen Nase ein Zwicker. Sie aß mit bei Tisch und gab den Mädchen ständig Anweisungen wie: »Aglaia, halt dich bitte gerade.« – »Man isst die Suppe etwas zierlicher, Tanya, man sollte den Löffel nicht hören.« – »Meine Güte
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