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Himmel über Ostpreußen: Schicksalsjahre einer Familie (German Edition)

Himmel über Ostpreußen: Schicksalsjahre einer Familie (German Edition)

Titel: Himmel über Ostpreußen: Schicksalsjahre einer Familie (German Edition)
Autoren: Maja Schulze-Lackner
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werde es mir später ansehen. Ach, ich höre schon die Stimme der Baronin – nehmt ihr den Tee mit uns?«
    »Nein, Mamachen«, sagte Aglaia schnell. »Ich habe Tanya so lange nicht gesehen. Wir gehen rüber in die Bibliothek. Du bist doch nicht böse?«
    Die Baronin betrat von der Frau Kommerzienrat gefolgt den kleinen Salon. Beide wurden von Wilhelmine überschwänglich begrüßt. Die beiden Mädchen küssten den Damen die Hand, und nach ein paar belanglosen Worten verschwanden sie nach nebenan.
    Aglaia und Tanya konnten unterschiedlicher nicht sein. Aglaia war groß, mit breiten, geraden Schultern, einem üppigen Busen und einer schlanken Taille. Das bildschöne Gesicht wurde von großen dunklen Augen mit dichten langen Wimpern beherrscht. Die braunen Locken waren mit Schildpattkämmchen achtlos nach oben gesteckt, und ihre vollen roten Lippen entblößten beim Lachen eine Reihe makelloser, perlweißer Zähne. Sie hatte eine gesunde Gesichtsfarbe, die sie wohl ihrem steten Verlangen nach frischer Luft verdankte. Wann immer das Wetter es erlaubte, ritt sie stundenlang über die Felder, und auch jetzt trieb sie sich so oft sie konnte im Stall herum, striegelte ihre Lieblingsstute Hortensie und verwöhnte sie mit Möhren oder Zucker.
    Tanya dagegen war genau das Gegenteil. Klein und zart, glich sie einer Madonna. Die tizianroten Haare waren in der Mitte gescheitelt und hinten zu einem dicken Zopf geflochten, sodass sie die zierlichen Ohren fast verdeckten. Ihre Haut war alabasterfarben, und die grüngrau gesprenkelten Augen blickten meist melancholisch. Doch auch die entzückende kleine Nase und der herzförmige zartrosa Mund, ihre ganze Anmut und Lieblichkeit, konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass das junge Mädchen nicht glücklich war. Nur hin und wieder begleitete sie Aglaia bei ihren Ausritten. Sie fürchtete sich ein wenig vor den großen Tieren, die ihr unheimlich waren. Lieber las sie Bücher, die Bibliothek ihres Onkels war ja unerschöpflich. Oder sie schrieb heimlich Gedichte, die sie aber nicht einmal Aglaia zeigte.
    Die beiden jungen Mädchen verband ein Geheimnis. Schon als kleines Kind war Aglaia äußerst neugierig gewesen. Ihr war aufgefallen, dass der oberste Stock des Schlosses nie benutzt wurde, selbst wenn das Haus voller Gäste war. »Was ist da, Papachen?«, fragte sie eines Tages ihren Vater. »Da oben ist es immer so still?«
    »Dort hat mein Onkel Archibald, der Bruder deines Großvaters, gelebt«, antwortete er. »Er hat jeden Abend mit seinem Teleskop die Sterne beobachtet. Der Himmel über Ostpreußen war das Einzige, was ihn am Ende noch interessierte. Wir haben alles so gelassen, wie es nach seinem Ableben war. Aber gut, dass du mich daran erinnerst. Gelegentlich möchte ich die Räume ausleeren lassen.«
    Aglaias Neugierde war geweckt. Ein paar Tage später hatten sich die Mädchen die Erlaubnis erbeten, im selben Zimmer zu schlafen. Es war eine sternenklare Nacht, und irgendwann rief Aglaia leise: »Tanya, schläfst du schon?«
    »Nein, noch nicht so ganz«, flüsterte diese. »Was ist, kannst du nicht schlafen?«
    »Steh auf, wir wollen heute auch mal die Sterne beobachten wie Großonkel Archibald!«
    Tanya rieb sich schlaftrunken die Augen. »Das dürfen wir bestimmt nicht. Wenn Tante Wilhelmine …«
    »Ach, du weißt doch, Mama geht immer früh zu Bett. Niemand wird uns hören.« Leise öffnete Aglaia die Tür. Kein Laut war zu vernehmen. »Nun komm!« Sie nahm Tanya fest bei der Hand. »Hab keine Angst. Ich bin ja bei dir.« Barfuß stiegen sie vorsichtig die Treppe hinauf. Wenn eine Stufe knarzte, blieben sie mit klopfendem Herzen stehen. Aber niemand schien sie zu hören, und so gingen sie leise weiter. Die oberen Türen waren unverschlossen. Fahles Mondlicht beschien die mit großen weißen Tüchern verhüllten Möbel. Es roch modrig und verstaubt, und Spinnen hatten riesige Netze gespannt.
    »Das ist fürchterlich gruselig.« Tanya zitterte am ganzen Leib. »Sieh nur die Bilder an den Wänden. Die Augen verfolgen uns mit ihren Blicken.«
    »Ach Unsinn«, sagte Aglaia forsch, obwohl ihr das alles auch nicht ganz geheuer war, »das sind bloß unsere Ahnen, die sind schon ewig lange tot. Na ja, manchmal sollen sie im Schloss spuken, sagt Kurt.«
    Tanya erstarrte. »Ich will hier sofort weg. Ich will wieder in mein Bett!« Sie schlotterte vor Angst.
    »Nun stell dich nicht so an.« Aglaia sprach nun in normaler Lautstärke. »Ich glaube nicht an Gespenster. Und sieh mal,
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