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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken
Autoren: Sarah Stricker
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eine Banklehre gemacht hatte und seither in der Kreissparkasse am Schalter stand, in der Dorfrangfolge gleich hinter Pfarrer und Bürgermeister. Mein Urgroßvater hatte ein bisschen Geld gehabt und, wenn schon keine Bildung, so doch genug Verstand, um seine beiden Söhne aufs Gymnasium zu schicken, was damals weder normal noch billig gewesen war. »Ein feiner Kerl«, wie auch meine Großmutter eingestand, der jedoch wenige Wochen nach ihrem kurzen Kennenlernen an den Spätfolgen einer Kriegsverletzung gestorben war. Die restliche Verwandtschaft war mehrheitlich in der Kfz-, Sanitär- und Elektrobranche tätig, was die Renovierung des ererbten Hauses enorm erleichterte. Erkauft wurden die Reparaturen jedoch mit unzähligen verstopften Toiletten, deren Inhalt die Onkel mit einer solchen Hingabe am Kaffeetisch meiner Großmutter ausbreiteten, dass die spätestens nach einer halben Stunde eine ungesunde Blässe im Gesicht meiner Mutter zu entdecken glaubte und ganz schnell mal mit ihr an die Luft musste. Trotzdem ließ sie es sich nicht nehmen, am darauf folgenden Tag jedem Gast ein mit Veilchen verziertes Kärtchen zu schicken, in dem sie sich für den schönen Abend bedankte und auf baldige, ganz baldige Wiederholung drängte.
    Sie selbst war in Berlin aufgewachsen, Tochter aus gutem Hause, das jedoch genauso wie seine Bewohner größtenteils dem Krieg zum Opfer gefallen war. Meine Großmutter war die Einzige, die den Luftangriff 1943 überlebt hatte. Und auch das nur, weil sie trotz der Beruhigungsversuche ihrer Mutter so ausdauernd um sich geschlagen hatte, dass sich der Griff um ihre Handgelenke endlich gelöst hatte und sie aus dem Kellerloch hinausgerannt war, wo sie angeblich noch den Flieger sah, der die Bombe durchs Giebelfenster warf. Sie wusste, dass sie ihr Leben nur der Angst verdankte.
    Das vergaß sie ihr nie.
    Halb besinnungslos lief sie durch die Straßen auf der Suche nach einem bekannten Gesicht oder wenigstens etwas zu essen, aber alles, was sie fand, war nur noch mehr Leid und noch mehr Schrecken. Sie blieb allein mit ihrer Angst in den Resten des Gemäuers, das sowohl ihre Eltern als auch ihren kleinen Bruder unter sich begraben hatte, und als der Krieg endlich vorbei war, war sie ihr so lieb geworden, dass sie nicht mehr ohne sie konnte. Sie fürchtete sich vor allem, vor den Russen, den Amerikanern, vor den Deutschen eigentlich auch, vor schreienden Katzen, quietschenden Türen, vor Schritten, ganz gleich welcher Nationalität, von denen sie schließlich ein besonders kräftiges, mit Eisenkappen beschlagenes Paar aus der Ruine trieb, weil meine Großmutter annahm, der Besitzer wolle ihr außer dem Tafelsilber »noch etwas anderes rauben. Das musst du jetzt noch nicht verstehen.« Tatsächlich besorgte das dann ein junger Mann, den sie auf der Flucht kennenlernte, ihr aber ebenfalls beim Marsch über ein Minenfeld wegstarb. Aber das war schon nach der Niederlage, die jetzt Befreiung hieß, zählte also nicht wirklich. Außer bei Regen. Da war er die Liebe ihres Lebens und die mittels eines rhythmisch geschüttelten Pillendöschens angezeigte Gicht nur Zeichen ihrer Sehnsucht.
    Letztlich war natürlich beides Unsinn. Die erste und einzig wahre Liebe meiner Großmutter war die Angst. Alles was danach kam, waren nur Variationen. Sie liebte meinen Großvater aus Angst vor dem Leben, davor, nicht mehr wegrennen, sondern ankommen zu müssen. Sie liebte meine Mutter aus Angst vor dem Tod. Mich aus Angst, die Angst zu verlieren. Noch im Alter, als sie sich wohl behütet, fett und endlich auch wieder reich hinter einer Alarmanlage dem Infarkt entgegenfraß, genügte ein Rascheln vorm Fenster, dass sie mich bat, hochzukommen und nach meinem Großvater zu sehen, während sie sich ein neues Päckchen verschreibungspflichtiger Placebos aus der Apotheke holte. Wenn ich den »lästigen« (sie), »kläglichen« (meine Mutter), »gutgemeinten« (ich), aber fraglos »fruchtlosen« (wir alle) Versuch unternahm, ihre Sorgen mit gesundem Menschenverstand zu zerstreuen, erzählte sie mit einem Glänzen in den Augen, das nur ein ungeübter Beobachter als Tränen missdeuten konnte, von den in Hinterhöfen verbrachten Nächten, in denen ihr die Angst der einzig verlässliche Begleiter gewesen war. Ohne eine Menschenseele an ihrer Seite hatte sie das halbe, wenn auch wenigstens mittlerweile leicht zusammengeschrumpfte Land durchquert, bis sie es wie durch ein weiteres Wunder zu einer Cousine schaffte, die »glücklich! Das
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