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Der letzte Coyote

Der letzte Coyote

Titel: Der letzte Coyote
Autoren: Michael Connelly
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    W orüber möchten Sie zuerst sprechen?«
    »Worüber ich sprechen möchte?«
    »Ja. Wollen Sie mit dem Vorfall anfangen?«
    »Mit dem Vorfall? Nun, natürlich hab’ ich mir so meine Gedanken darüber gemacht.«
    Sie wartete, aber er sprach nicht weiter. Noch bevor er in Chinatown angekommen war, hatte er einen Entschluß gefaßt. Er würde sie zwingen, ihm jedes Wort einzeln aus der Nase zu ziehen.
    »Könnten Sie mir sagen, was Sie denken, Detective Bosch?« fragte sie endlich. »Das ist der Zweck der …«
    »Ich denke, daß das Ganze eine Scheißfarce ist – reines Theater. Aber das scheint ja der Zweck der Übung zu sein. Mehr hab’ ich nicht zu sagen.«
    »Halt, warten Sie. Was meinen Sie mit ›Theater‹?«
    »Ich gebe zu, daß ich den Typen gestoßen habe. Wahrscheinlich habe ich ihm auch eine verpaßt. Was genau passiert ist, weiß ich nicht mehr. Aber ich streite nichts ab. Also gut, man kann mich suspendieren, versetzen, oder es vor den Disziplinarausschuß bringen – was weiß ich. Aber dieses Verfahren ist eine Scheißfarce. ZBwS ist eine Scheißfarce. Warum muß ich dreimal die Woche hierherkommen, als ob ich ein … Sie kennen mich nicht einmal! Sie wissen nichts von mir. Warum muß ich mit Ihnen reden? Warum müssen Sie Ihre Zustimmung geben?«
    »Nun, Sie haben gerade selbst die formale Begründung dafür gegeben. Die Polizeibehörde hat sich gegen Disziplinarmaßnahmen und für Therapie entschieden. Sie sind wegen Streß zwangsbeurlaubt worden, was bedeutet …«
    »Ich weiß, was es bedeutet. Und deshalb ist es reines Theater. Jemand entscheidet arbiträr, daß ich total gestreßt bin. Und das gibt meinen Vorgesetzten das Recht, mich für unbefristete Zeit zu suspendieren – oder wenigstens so lange, bis ich für Sie brav Männchen mache.«
    »An dieser Entscheidung ist nichts arbiträr. Sie gründet sich auf Ihr Verhalten, welches meiner Ansicht nach klar zeigt …«
    »Was passiert ist, hatte nichts mit Streß zu tun. Es hatte mit …, ach, egal. Wie gesagt, wir spielen hier Theater. Also warum kommen wir nicht ohne weitere Umschweife auf den springenden Punkt? Was muß ich tun, um wieder arbeiten zu können?«
    Er konnte sehen, wie Zorn in ihren Augen aufleuchtete. Seine totale Ablehnung ihres Berufs und ihrer Fähigkeiten traf sie in ihrem Stolz. Sogleich jedoch verlosch ihr Zorn wieder. Sie hatte ständig mit Polizisten zu tun und war vermutlich dergleichen gewohnt.
    »Können Sie nicht einsehen, daß es um Ihr Wohl geht? Ich gehe davon aus, daß die Polizeiführung Sie eindeutig als wertvolle Kraft ansieht. Andernfalls wären Sie nicht hier. Man hätte ein Disziplinarverfahren einleiten und Sie zum Abschuß freigeben können. Statt dessen tut man alles mögliche, um Ihre Karriere zu retten sowie deren Funktionswert für die Polizei zu erhalten.«
    »Wertvolle Kraft? Ich bin Polizist und keine Wertanlage. Wenn ich draußen auf der Straße bin, denkt niemand an meinen Funktionswert. Was soll das überhaupt bedeuten? Muß ich mir so ein hochgestochenes Zeug hier anhören?«
    Sie räusperte sich und begann dann in energischem Ton:
    »Sie haben ein Problem, Detective Bosch. Und es beschränkt sich nicht allein auf den Vorfall, der zu Ihrer Beurlaubung führte. Darum geht es in diesen Sitzungen. Kapieren Sie das? Es handelt sich nicht um einen einmaligen Vorfall. Sie hatten schon vorher Probleme. Was ich zu tun versuche, was ich zu tun habe, bevor ich meine Zustimmung gebe, daß Sie Ihren Dienst in irgendeiner Funktion wieder aufnehmen können, ist, Sie zur Selbsterkenntnis zu führen. Was tun Sie? Was macht das Wesen ihrer Persönlichkeit aus? Warum passieren Ihnen solche Sachen? Ich möchte, daß diese Sitzungen ein offener Dialog sind, bei dem ich ein paar Fragen stelle und Sie Ihre Meinung frei äußern. Aber mit einem Ziel. Und zwar nicht, mich und meinen Beruf oder die Polizeiführung anzugreifen, sondern über Sie zu sprechen. Hier drinnen geht es um Sie, um niemand sonst.«
    Harry Bosch sah sie nur schweigend an. Er sehnte sich nach einer Zigarette, aber er würde sie nie fragen, ob er rauchen könne. Ihr gegenüber würde er nie zugeben, daß er rauchte. Wenn er es täte, würde sie eventuell anfangen, über Oralfixierung oder Nikotinkrücken zu reden. Statt dessen atmete er tief ein und betrachtete die Frau auf der anderen Seite des Schreibtisches. Carmen Hinojos war eine kleine Frau mit einem freundlichen Gesicht und freundlichem Auftreten. Bosch wußte, daß sie keine üble
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