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Tom-Kat und andere scharfe Stories

Tom-Kat und andere scharfe Stories

Titel: Tom-Kat und andere scharfe Stories
Autoren: Kerri Sharp
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Tom-Kat
    Maria Lloyd
    Hier stehe ich in der Dunkelheit in Hampstead ­Heath und blicke auf die Mondsichel, die über dem fernen, orangefarbenen Schimmer von London steht. Eine plötzliche Windböe lässt die Bäume rauschen, und ich erschauere, mehr aus Nervosität als wegen der kühlen Septembernacht. Ich drücke mich an die raue Rinde der uralten Eiche und versuche, meine Gedanken auf die Schönheit des Abends zu richten, statt zu überlegen, warum ich hier in Jeans, einem schwarzen Polohemd, Doc Martens und Baseballkappe stehe.
    Dann flüstert Jerome, der neben mir am Baumstamm lehnt, mir zu: »Gleich passiert was, Kat.«
    Jetzt, wo ich mich an die Dunkelheit gewöhnt habe, kann ich sein Gesicht gerade so erkennen. Er sieht aus wie der Geist eines schönen, dekadenten Aristokraten. Ein grausamer Zug liegt um seinen fein gezeichneten Mund, und seine Augen glitzern. Aber diese Seite an ihm kannte ich ja schließlich schon. Es ist einer der Gründe, warum ich hier bin.
    Lassen Sie mich das erklären. Gestern morgen fand das monatliche Treffen für freiberufliche Journalisten in der Redaktion der Frauenzeitschrift statt, für die ich manchmal arbeite. Die Chefredakteurin erläuterte die Themen für ein neues Magazin, das sich an wildere Frauen richten soll. Sie wollte eine ständige Seite für weibliche Reporter einrichten, denen es gelang, in typische Männerdomänen in der Hauptstadt einzudringen. Eine der Freien bot an, sich in eine Loge einzuschmuggeln, eine andere wollte den Männerbereich in ihrem Club erkunden und so weiter.
    Und dann hörte ich mich sagen: »Und wie wäre es mit einem Bericht über die Schwulenszene in Hampstead Heath?«
    Die Chefredakteurin warf mir einen interessierten Blick zu und zündete sich eine Zigarette an.
    »Kämen Sie da hinein?«, fragte sie.
    »Finden Sie nicht auch, dass ich ziemlich knabenhaft aussehe? Und ich habe Kontakte. Einer meiner besten Freunde geht regelmäßig dorthin. Er ist mir sicher gerne behilflich, wenn das Honorar stimmt.«
    Sie nickte lächelnd. »Wenn Sie es schaffen, gibt es ein Tophonorar!«
    Während die Sitzung andauerte, floh ich unter irgendeinem Vorwand auf die Damentoilette. Dort zündete ich mir eine Marlboro an. Ob ich mich dieses Mal wohl ernsthaft in Schwierigkeiten gebracht hätte? Hybris. Ich werde es nie lernen.
    An dem Nachmittag traf ich mich mit Jerome in unserem Stammcafé in Soho. In dem Tweedanzug, dem frischen weißen Hemd, den untadelig gekämmten honigblonden Haaren und mit dem Duft nach Aramis wirkte er wie ein Dandy. Kaum vorstellbar, dass er Steuerberater in einer großen Kanzlei ist, aber er ist nicht nur schön, sondern auch klug. Jerome ist mein bester Freund und zugleich auch mein Vetter, und zwischen zwei Liebhabern hält er sich häufig in meiner Wohnung auf. Er schuldete mir also was.
    »Was gibt’s?«, fragte er und löffelte den Schaum von seinem Cappuccino, als ich ihm erklärte, was ich vorhatte. »Du willst was?«
    »Ach, komm, Jerome«, schmeichelte ich. »Du hast es mir doch schon tausendmal angeboten. Du sagst doch immer, wenn ich deine Kleidung trage, sehe ich genauso aus wie du. Vor allem im Dunkeln, oder?«
    »Aber das sage ich für gewöhnlich am Ende eines alkoholisierten Abends, so wie andere Leute sagen: ›Sieh dir den Mond an, komm, wir springen drüber!‹« Kopfschüttelnd fuhr er fort: »Ich sage immer: ›Kat, ich gehe auf Jagd, willst du mitkommen?‹ Aber ich weiß doch, dass du dann ablehnst.«
    Ich zog einen Schmollmund und fuhr mir mit der Hand durch meine kurzen Haare.
    »Okay, dann lässt du es eben bleiben. Es ist ja auch nur so viel Geld, dass wir beide ein paar Monate lang unsere Mieten bezahlen könnten. Und meiner Karriere würde es ja auch nur nützen. Außerdem dachte ich, dass es vielleicht Spaß machen könnte.«
    Jerome legte den Kopf schräg und blickte mich aus seinen grauen Augen nachdenklich an. Er musterte mich, und zwar nicht als Mädchen. Er überlegte, wie ich als Junge wirken würde. Und plötzlich entzündete sich ein Funken zwischen uns. Einfach so.
    Jerome ist bisexuell, müssen Sie wissen. Aber uns beide hat er noch nie auf diese Weise gesehen. Das war nur mir so ergangen, und zwar mehr als einmal.
    Er beugte sich vor und umfasste mein Kinn mit seinen langen, schlanken Fingern. Dann drehte er mein Gesicht zur Seite, um mein Profil zu überprüfen. Dabei streiften seine Knie die meinen unter dem schmalen Kunststofftisch. Er schluckte, und ich spürte, dass ihm auf einmal
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