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Hautnah

Hautnah

Titel: Hautnah
Autoren: Julia Crouch
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    N ew York aus der Luft, fand Lara, sah aus wie der Londoner Stadtteil Croydon im Großformat. Als sie eine Schleife über Newark drehten, verstärkte der Ikea-Komplex am Stadtrand die Illusion noch. Erst am Boden, als sie in ihrem riesigen gemieteten Chevrolet die von Dunst verhangene New-Jersey-Schnellstraße entlangfuhren, offenbarte sich ihnen das klassischere Panorama der Stadt in Gestalt der Skyline von Manhattan. Der Anblick war so imposant, dass die gesamte Familie Wayland – der kleine Jack natürlich ausgenommen – spontan eine kurze Mundtrompeten-Version von Rhapsody in Blue anstimmte, eine Auswirkung ihrer Woody-Allen-Recherchen im Vorfeld der Reise.
    Noch bevor sie das Asphaltgewirr der nordwärts führenden Straßen hinter sich gelassen hatten, musste Lara Marcus bitten, anzuhalten, weil ihr übel war. Außerdem hatte sie ziemlich starke Blutungen. Nachdem sie ihren Eiscreme-Snack erbrochen hatte, der ihnen kurz vor der Landung von Virgin Atlantic serviert worden war, saß sie in der Kabine der Tankstellentoilette und presste die Stirn gegen die stählerne Kühle des Papierspenders.
    Zum tausendsten Mal fragte sie sich, was um alles in der Welt sie sich nur dabei gedacht hatte. Marcus hatte gemeint, sie sollten es als eine Art Fehlgeburt betrachten, und jede Faser ihres Körpers wollte glauben, dass es tatsächlich so gewesen war.
    Sie richtete den Blick nach unten, sah zu, wie ihr das, was hätte sein können, tröpfchenweise zwischen den Beinen herausrann, und betete um Vergebung – oder wenigstens darum, dass die Schmerzen aufhörten, die seit fünf Wochen still und leise in ihrem Innern wüteten. Wieder einmal machte sie sich heftige Vorwürfe, weil sie nicht auf ihre eigene Stimme gehört hatte. Weil sie so ein Feigling gewesen war und getan hatte, was Marcus wollte.
    Irgendwann stand sie auf, wischte sich sauber und drückte die Spülung. Draußen spritzte sie sich kaltes Wasser ins Gesicht. Nachdem sie in den Spiegel geschaut und sich vergewissert hatte, dass sie immer noch ein Lächeln zustande brachte, machte sie sich auf den Weg zurück zu ihrer Familie. Der bevorstehende Sommer würde ein großes Abenteuer werden, und wenn er die heilsame Wirkung haben sollte, die sie sich von ihm erhoffte, musste sie sich wirklich langsam einen Ruck geben.
    Sie überquerte den vor Hitze flimmernden Asphalt des Tankstellenparkplatzes und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen, froh, dass Marcus während ihrer Abwesenheit Motor und Klimaanlage hatte laufen lassen.
    »Alles in Ordnung?«, erkundigte er sich.
    Sie wandte sich zu ihm und schenkte ihm das Lächeln, das sie im Spiegel geübt hatte.
    Er legte den Gang ein, und sie machten sich auf die Fahrt nach Norden, hinaus aus der Stadt. Die USA waren für sie komplettes Neuland. Als sie kurz vor der Grenze zum Staat New York an eine Mautstelle kamen, musste Marcus erst nachfragen, welche Münze denn nun das geforderte Zehncentstück sei.
    »Das ist ’n Scherz, oder?«, fragte die Wärterin gedehnt, eine schwitzende, giftig aussehende Frau, die wie durch eine chemische Reaktion mit ihrem Maut-Häuschen verschmolzen zu sein schien.
    Die Straße erstreckte sich endlos vor ihnen, doch der lange, lange Tag neigte sich bereits dem Ende zu, und die vierzehnstündige Reise machte sich bei den Mitgliedern der Familie allmählich bemerkbar.
    Lara drehte sich nach hinten und betrachtete ihre drei lebenden Kinder. Jack war natürlich sofort eingeschlafen, kaum dass er in seinem Kindersitz gesessen hatte. Er hatte seinen schweißfeuchten kleinen Kupferschopf an seinen ständigen Begleiter, den Teddybär Cyril, geschmiegt, und seine große Schwester Bella kuschelte sich schützend an ihn, als wäre sie seine Mutter.
    In ihrer Tochter konnte Lara sich selbst erkennen, wie sie früher einmal gewesen war. Bella war vor kurzem sechzehn geworden, doch mit ihrem glatten dunklen Bob, jetzt strähnig von der Reise, hatte sie immer noch dasselbe puppenhafte Aussehen wie als Kind. Mit ihrer Zartheit stand sie in krassem Gegensatz zu ihrem Zwillingsbruder Olly, der groß, schlaksig und dunkeläugig war und schon etwas Wildes, Männliches an sich hatte. Er hing, gegen die Fensterscheibe gelehnt, schlaff in seinem Sitz. Vielleicht schlief auch er, unbeeindruckt von den dröhnenden Dubstep-Beats, die aus den Kopfhörern seines iPods drangen und die Lara sogar über die beachtliche Entfernung zwischen Vorder- und Rücksitzen hinweg hören konnte.
    Eingerahmt von seinen zwei
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