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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost
Autoren: Henning Mankell
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Prolog
JONESTOWN,
November 1978
    Die Gedanken in seinem Hirn waren wie ein Funkenregen von glühenden Nadeln. Der Schmerz war fast unerträglich. Verzweifelt versuchte er, klar zu denken und die Ruhe zu bewahren. Was quälte ihn am meisten? Er brauchte nicht nach der Antwort zu suchen: Es war die Angst. Daß Jim seine Hunde losließ und sie hinter ihm herhetzte, als wäre er ein aufgeschrecktes Wild auf der Flucht, was er eigentlich auch war. Es waren Jims Hunde, die ihm die meiste Angst machten. Die ganze lange Nacht zwischen dem 18. und dem 19. November, als er nicht mehr laufen konnte und sich zwischen den morschen Resten eines umgewehten Baums versteckte, meinte er zu hören, wie sich die Hunde näherten.
    Jim läßt nie jemanden davonkommen, dachte er. Der Mann, dem ich einst zu folgen beschloß, weil er von einer grenzenlosen und göttlichen Liebe erfüllt zu sein schien, erweist sich jetzt als ein ganz anderer. Unmerklich hat er mit seinem eigenen Schatten oder mit dem Teufel, gegen den er immer gepredigt und vor dem er uns immer gewarnt hat, die Gestalt gewechselt. Dem Dämon der Ichbesessenheit, der uns daran hindert, Gott in Unterwürfigkeit und Gehorsam zu dienen. Was ich für Liebe hielt, hat sich jetzt in Haß verwandelt. Ich hätte es früher einsehen müssen. Jim hat es ja selbst klargemacht, ein um das andere Mal. Er hat uns die Wahrheit gegeben, doch nicht die ganze Wahrheit auf einmal, sondern in Form einer schleichenden Offenbarung. Aber weder ich noch einer von den anderen hat hören wollen, was wir hörten, was zwischen den Worten verborgen war. Es ist mein eigener Fehler, weil ich nicht verstehen wollte. Wenn er uns zu seinen Predigten versammelte oder uns seine Mitteilungen schickte, hat er nicht nur von der geistigen Vorbereitung gesprochen, der sich jeder einzelne unterziehen müsse, bevor der Tag des Gerichts anbreche. Er hat auch gesagt, daß wir in jedem Augenblick bereit sein müßten zu sterben.
    Er unterbrach den Gedanken und horchte ins Dunkel hinaus. Hörte er nicht das entfernte Bellen der Hunde? Aber sie waren immer noch nur in ihm, eingeschlossen in seine eigene Angst. In seinem verwirrten, verschreckten Hirn kehrte er wieder zurück zu dem, was in Jonestown geschehen war. Er mußte verstehen. Jim war ihr Führer gewesen, ihr Hirte, ihr Pastor. Sie hatten sich ihm beim Auszug aus Kalifornien angeschlossen, als sie die Verfolgung, der sie von seiten der Behörden und der Massenmedien ausgesetzt waren, nicht mehr ertrugen. In Guyana wollten sie ihren Traum von einem freien Leben in Gott verwirklichen, in Eintracht miteinander und mit der Natur. Am Anfang war auch alles so gewesen, wie Jim gesagt hatte. Sie hatten davon gesprochen, daß sie ihr Paradies gefunden hatten. Aber irgend etwas war passiert. Vielleicht würden sie ihren großen Traum hier in Guyana nicht verwirklichen können? Vielleicht waren sie hier ebenso bedroht wie in Kalifornien? Vielleicht müßten sie nicht nur ein Land hinter sich lassen, sondern auch das Leben, um in Gemeinschaft mit Gott das Dasein zu schaffen, das sie einander versprochen hatten. »Ich habe meine eigenen Gedanken geprüft«, sagte Jim. »Ich habe weiter gesehen, als ich früher gesehen habe. Der Tag des Gerichts steht nahe bevor. Wenn wir nicht mit in den furchtbaren Mahlstrom gezogen werden wollen, müssen wir vielleicht sterben. Nur indem wir sterben, werden wir überleben.«
    Sie sollten Selbstmord begehen. Als Jim das erstemal da auf dem Betplatz stand und darüber sprach, hatten seine Worte nichts Erschreckendes gehabt. Zuerst sollten die Eltern ihren Kindern von dem verdünnten Zyanid geben, das Jim in großen Plastikbehältern in einem verschlossenen Raum auf der Rückseite seines Hauses aufbewahrte. Dann würden sie selbst das Gift nehmen, und denjenigen, die zögerten und im letzten Augenblick ihren Glauben verrieten, würden Jim und seine engsten Mitarbeiter Hilfestellung leisten. Falls das Gift ausging, gab es Waffen. Jim persönlich würde dafür sorgen, daß alle tot waren, bevor er die Waffe gegen sich selbst richtete.
    Er lag unter dem Baum und keuchte in der tropischen Hitze. Die ganze Zeit horchte er nach Jims Hunden. Den großen, rotäugigen Monstern, vor denen alle Angst hatten. Jim hatte gesagt, daß diejenigen, die sich entschieden hatten, in seiner Gemeinde zu leben, und die den großen Auszug aus Kalifornien hierher in die Wildnis von Guyana mitgemacht hatten, keinen anderen Weg gehen konnten als den von Gott bestimmten.
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