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Fenster zum Tod

Fenster zum Tod

Titel: Fenster zum Tod
Autoren: Linwood Barclay
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Prolog
    R einer Zufall, dass er ausgerechnet in diesem Augenblick in die Orchard Street einbog und das Fenster sah. Es hätte ohne weiteres eine Woche später sein können. Oder einen Monat. Vielleicht sogar ein Jahr. Aber es sollte eben genau an diesem Tag sein.
    Klar, irgendwann wäre er bestimmt hier entlanggewandert. Früher oder später führte ihn sein Weg in jede Straße. Eigentlich wollte er immer methodisch vorgehen – dem Verlauf einer Straße vom Anfang bis zum Ende folgen, dann links oder rechts in die letzte Querstraße abbiegen, bis zur nächsten Ecke laufen, da eine Parallelstraße nehmen und wieder in die Richtung gehen, aus der er gekommen war, so als schlendere er durch die Gänge im Supermarkt. Bei jeder neuen Stadt nahm er sich das ganz fest vor, doch immer kam ihm eine Querstraße buchstäblich in die Quere, irgendetwas erregte seine Aufmerksamkeit, und schon war es um seine guten Vorsätze geschehen.
    Als er nach Manhattan gekommen war, war es genau dasselbe, obwohl sich Manhattan von allen Städten, die er schon besucht hatte, am besten dazu eignete, systematisch erforscht zu werden – jedenfalls die Stadtteile nördlich der 14. Straße, die in diesem perfekten Raster von Straßen und Avenues angelegt waren. Südlich davon, in West Village, Greenwich Village, SoHo, Chinatown, ja, da herrschte das totale Chaos, aber das machte ihm nichts aus. Schlimmer als in London oder Rom oder Paris oder Boston North End war es hier auch nicht, und diese Städte zu erforschen hatte ihm großen Spaß gemacht.
    Er war von der Delancey Street nach Süden in die Orchard Street abgebogen, aber gestartet war er Ecke Spring Street und Mulberry Street. Von dort war er nach Süden bis zur Grand Street gelaufen, dann in westlicher Richtung bis zur Crosby, zurück nach Norden bis zur Prince, die Prince entlang nach Osten in die Elizabeth, dann nach Süden bis zur Kenmare und weiter nach Osten in die Delancey Street. An der Ecke Orchard Street entschied er sich, rechts abzubiegen.
    Eine schöne Straße. Nicht in dem Sinne, dass hier Gärten, Springbrunnen und üppig belaubte Bäume die Gehsteige gesäumt hätten. Und auch nicht schön wie beispielsweise die Váci utca in Budapest oder die Avenue des Champs-Élyssées in Paris oder die Lombard Street in San Francisco, aber charaktervoll und geschichtsträchtig. Schmal und einspurig verlief sie von Süden nach Norden, flankiert von alten Backsteinhäusern. Mietskasernen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die nur selten mehr als vier Stockwerke hatten, oft sogar nur zwei oder drei. Die verschiedensten Epochen der Stadtgeschichte hatten hier ihre Spuren hinterlassen. Die Gebäude mit ihren Feuerleitern, die sich wie Skelette an die Fassaden klammerten, spiegelten den zu ihrer Entstehungszeit beliebten Neorenaissance-Stil wider: Bögen über den Fenstern, vorspringende steinerne Tür- und Fensterstürze, kunstvoll gemeißelte Blattornamente. Doch in den Läden im Erdgeschoss konnte man vom trendigen Café bis zur Edelboutique alles finden. Es gab aber auch ältere, traditionellere Geschäfte – einen Uniformladen, ein Immobilienbüro, einen Friseur, eine Galerie, ein Koffergeschäft. Viele der geschlossenen Geschäfte waren mit Rollgittern gesichert.
    Er schlenderte mitten auf der Straße dahin. Um den Verkehr machte er sich keine Gedanken, nicht jetzt. Seiner Meinung nach entwickelte man das beste Gefühl für eine Gegend, wenn man mitten auf der Straße lief. Hier hatte man den besten Überblick. Man konnte geradeaus schauen oder von links nach rechts oder sich um die eigene Achse drehen und sich alles noch einmal ansehen. Für den Fall, dass es einmal schnell gehen musste, war es von Vorteil, seine Umgebung und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten zu kennen.
    Was ihn an einer Stadt am meisten interessierte, war die räumliche Anordnung der Häuserblocks, die Architektur, die Infrastruktur – den Menschen, denen er auf seinen Wanderungen begegnete, schenkte er wenig Beachtung. Er begann keine Unterhaltungen. Es war ihm kein Bedürfnis, zu der Rothaarigen, die rauchend an einer Ecke stand, auch nur »Hallo« zu sagen. Es war ihm egal, ob die Frau mit ihrer Aufmachung möglicherweise irgendein Statement abgeben wollte – mit ihrer Lederjacke, ihrem Minirock und den schwarzen Strümpfen, die aussahen, als wären die Laufmaschen absichtlich hineingemacht worden. Er würde auch die Frau mit der schwarzen Baseballkappe, die gerade vor ihm über die
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