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Die Wand der Zeit

Die Wand der Zeit

Titel: Die Wand der Zeit
Autoren: Alastair Bruce
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    Es regnet hier seit zehn Jahren. Ich führe eine genaue Chronik und brauche nicht zu fürchten, dass man mich widerlegt. Zwischendurch gab es auch Tage ohne Regen, und an den meisten Tagen hört der Regen für ein paar Stunden auf, aber das sind Pausen in dem erbarmungslosen Dauerregen, in dem diese Insel irgendwann versinken wird. Schon jetzt ist sie stellenweise vollgesogen. Die Sümpfe sind doppelt so groß wie bei meiner Ankunft, und die Steilufer im Norden stürzen in die Bucht, ihre Erdwände halten dem Regen nicht stand. Diese Insel ist weder Wasser noch Land, ein Zwischenreich, eine Übergangswelt. Wenn ich durch das Grasland und die Sümpfe zu den Torffeldern im Süden laufe, gibt der Boden unter meinen Füßen nach, als triebe er auf Wasser. Früher oder später wird nur noch der Felshügel übrig sein, auf dem ich mich häuslich eingerichtet habe. Die Höhle im Fels ist der einzige Ort auf der Insel, der trocken bleibt, und es ist warm dort. Ich halte ein Feuer in Gang und habe aus dem Floß, mit dem ich zu der Insel gekommen bin, eine Tür gezimmert.
    Manchmal ist der Regen so leicht, dass er wie Nebel wirkt. Dann sehe ich den Nebel unter der Tür hindurch in die Höhle kriechen. Er rollt vom Meer herein und bleibt über den Sümpfen hängen. Er wirbelt, strudelt, lässt Gesichter entstehen.
    Am Ende jedes Tages ritze ich mit einem Stein einen kleinen Strich in die Höhlenwand. Den siebten Strich ziehe ich jeweilsdurch die vorhergehenden sechs. Nach zweiundfünfzig solchen Blöcken plus einem Extrastrich bzw. zwei Extrastrichen alle vier Jahre fange ich eine neue Reihe an. Gestern Abend habe ich die zehnte Reihe beendet. Heute Abend fange ich mit einer neuen an. Bei den letzten Strichen muss ich jedes Jahr aufs Neue daran denken, dass es eine Erklärung dafür gibt, dass wir die Zeit so messen – mit einem oder zwei zusätzlichen Tagen im Jahr –, und jedesmal merke ich, dass ich den Grund vergessen habe. Ich denke mir, es hat etwas mit dem Mond zu tun, dem Mond, den ich seit zehn Jahren nicht gesehen habe. So vieles, was ich tue, was wir früher getan haben, geschah und geschieht aus Gründen, an die ich mich nicht erinnere, an die sich wohl niemand erinnert. Striche an der Wand. Das zweite Mal in meinem Leben, dass ich Striche in eine Wand ritze. Sie bedeuten mehr als Tage. Das vergesse ich nicht.
    Es gibt Holz auf der Insel. Im Osten liegt ein kleiner Wald. Dort ist es dunkel. Beziehungsweise dunkler. Das Licht dringt nicht bis zum Boden durch, so karg der Baumbestand auch ist. Aus irgendeinem Grund breitet sich der Wald nicht aus. Man sieht keine jungen Bäume, nur ausgewachsene. Alle acht Wochen fälle ich einen. Sie und der Torf, den ich steche, sind meine Brennstoffe.
    Für den Achtwochenrhythmus habe ich mich aus einem einfachen Grund entschieden. Nach meiner Berechnung bleiben mir noch höchstens zwanzig Jahre auf der Insel, und bei der letzten Zählung waren es einhundertdreiunddreißig Bäume. Das ergibt je einen für rund acht Wochen. Seit der siebzehnten Woche meines Aufenthalts richte ich mich danach. Anfangs war ich ein Verschwender und habe unnötig viele gefällt, bis ich merkte, dass keine nachwachsen.
    Ich habe im Zentrum des Bestandes angefangen, im dunkelsten Teil des Wäldchens, und arbeite mich langsam nach außen vor. Die Torffläche liegt etwa eine Meile von meiner Höhle entfernt in Richtung Wald. Auch sie habe ich ausgemessen. Auch sie soll für zwanzig Jahre reichen.
    Höhle, Steilufer, Wald, Sümpfe, das Torfmoor – Inseln in einem Meer aus nassem Gras. Inseln inmitten einer Insel. Irgendwann habe ich auf die Höhlenwand gegenüber der Wand der Zeit eine Karte von der Insel gezeichnet. Die Höhle habe ich mit einem X markiert. Das ist meine Welt.
    Ich weiß nicht, ob es noch zwanzig Jahre braucht. Ich bin nicht mehr jung. In zwanzig Jahren bin ich dreiundsiebzig. So alt werden die wenigsten. Es könnte durchaus schneller gehen.
    Die Insel ist ein stiller Ort. Nichts als der Regen, der leichte Wind. Wenn ich durch das Grasland laufe, streifen meine herunterhängenden Hände die Feuchtigkeit von den Halmen. Ich höre meine Schritte im Matsch und das leise Singen der Gräser im Wind. Möwen gibt es auch, jetzt weniger als früher. Hin und wieder sehe ich eine in einer Pfütze liegen. Wenn ich sie vor den Würmern finde, sind sie normalerweise essbar. Ich wasche sie in Meerwasser, schneide den Kopf ab, schäle die Innereien heraus. Wenn ich das Tier in Lehm hülle und im
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