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Fenster zum Tod

Fenster zum Tod

Titel: Fenster zum Tod
Autoren: Linwood Barclay
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hatte nämlich trotz allem die Form eines Kopfes. Das Plastik spannte über einer Ausbuchtung, die eigentlich nur eine Nase sein konnte. Es bedeckte etwas, das oben einer Stirn und unten einem Kinn ähnelte. Man konnte sogar die Andeutung eines Mundes sehen, die Lippen geöffnet, wie zum Luftschnappen.
    Oder zum Schreien.
    Sieht aus, als ob sich einer einen weißen Strumpf über den Kopf gezogen hat, dachte er. Dennoch hatte der Glanz des Materials mehr Ähnlichkeit mit Plastik.
    Sehr gescheit war das ja nicht. Sich eine Plastiktüte über den Kopf zu ziehen. Davon konnte man doch ersticken!
    Man müsste an der Plastiktüte ziehen, müsste sie von hinten zusammendrehen, damit sie sich so eng ans Gesicht schmiegte. Aber sonst war von dieser Person nichts zu sehen, weder die Arme noch die Hände, die das taten.
    War da vielleicht jemand anderes am Werk?
    Oh. Oh, nein.
    War es das, was er gerade beobachtete? Wie ein Mensch einem anderen eine Tüte über den Kopf zog? Ihm die Luft abdrückte? Ihn erstickte? Sah der Mund deshalb so aus, als ränge er nach Atem?
    Mit wem wurde das gerade gemacht? Mit einem Mann? Einer Frau? Und wer machte das?
    Plötzlich musste er an den Jungen am Fenster denken. An einem anderen Fenster. Vor vielen Jahren.
    Aber der Mensch an diesem Fenster, in diesem Moment, der sah nicht aus wie ein Junge. Oder ein Mädchen. Das hier war ein Erwachsener.
    Ein Erwachsener, dessen Leben zu Ende ging.
    Auf jeden Fall sah es so aus.
    Er spürte, wie sein Herz schneller zu schlagen begann. Auf seinen Reisen hatte er auch früher schon so manches gesehen. Manches, das nicht in Ordnung war.
    Aber das war nichts im Vergleich zu dem hier. Keinen Mord. Noch nie.
    Und das hier war ein Mord. Da war er sich ganz sicher.
    Er schrie nicht. Er griff nicht nach einem Handy in seiner Jacke, um den Notruf zu wählen. Er rannte auch nicht in den nächsten Laden, um jemanden aufzufordern, die Polizei zu rufen. Und er stürmte nicht in das Haus, raste nicht zwei Stockwerke hoch, in der Hoffnung, verhindern zu können, was hinter diesem Fenster geschah.
    Er streckte nur zaghaft die Hand aus, als könne er das Gesicht dieses Erstickenden im zweiten Stock berühren, könne ertasten, was er oder sie da um den Kopf gewickelt hatte, irgendwie feststellen, ob –
    Klopf, klopf.
    Dann, vielleicht konnte er dann besser verstehen, was gerade geschah, mit diesem Menschen am –
    Klopf, klopf.
    Gebannt starrte er auf das, was an diesem Fenster zu sehen war, und begriff zunächst gar nicht, dass jemand ihn auf sich aufmerksam zu machen versuchte. Jemand war an der Tür.
    Er nahm die Hand von der Maus, drehte sich mit seinem gepolsterten Stuhl herum und sagte: »Ja?«
    Die Tür öffnete sich einen Spalt breit. Aus dem Flur sagte jemand: »Schwing deinen Hintern runter zum Abendessen, Thomas.«
    »Was gibt’s denn?«, fragte er.
    »Hamburger. Vom Grill.«
    »Ist gut«, sagte der Mann auf dem Computerstuhl mit unbeteiligter Stimme.
    Er drehte sich wieder um und konzentrierte sich wieder auf das Standbild auf seinem extragroßen Computerbildschirm. Auf den verschwommenen weißen, verpackten Kopf, der dort schwebte. Wie eine Geistererscheinung.
    Hatte das damals jemand gesehen? Hatte jemand nach oben geblickt?
    Den Jungen am Fenster hatte niemand gesehen. Niemand hatte nach oben geschaut. Niemand hatte ihm geholfen.
    Der Mann ließ das Bild auf dem Bildschirm, damit er es gründlich inspizieren konnte, wenn er nach dem Abendessen zurückkam. Dann würde er entscheiden, was er tun wollte.

Zwei Wochen zuvor

Eins
    K omm doch rein, Ray.«
    Harry Peyton schüttelte mir die Hand, führte mich in sein Büro und deutete auf den roten Ledersessel vor seinem Schreibtisch. Er war ungefähr so alt wie mein Vater, sah aber Jahre jünger aus. Er war eins achtzig groß und schlank, und sein Kopf war glatt wie eine Melone. Kahlköpfige Männer wirkten oft älter als sie tatsächlich waren, doch bei Harry war das anders. Er war Langstreckenläufer, und sein teurer Anzug saß wie eine zweite Haut. Sein Schreibtisch war der sichtbare Beweis für seine Ordnungsliebe. Ein Computermonitor, eine Tastatur, eines der neuesten Smartphones. Und ein Aktenhefter. Sonst war der Tisch leer wie eine Leinwand vor dem ersten Pinselstrich.
    »Ich möchte dir noch mal sagen, wie leid es mir tut«, sagte Harry. »Es gibt so viel, das man über deinen Vater sagen kann, aber Reverend Clayton hat es sehr schön zusammengefasst. Adam Kilbride war ein guter Mensch.«
    Ich rang
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