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Ewige Nacht

Ewige Nacht

Titel: Ewige Nacht
Autoren: Ilkka Remes
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deinem Platz, wenn du nicht willst, dass wir runterkrachen.«
    Die Abwärtsbewegung war so stark, dass Timo sich vorkam wie in einer Achterbahn. Mit irrsinnigem Tempo kam ihnen das grüne Feld entgegen. »Scheiße, was …«
    »Mach deinen Gurt auf und bereite dich auf den Absprung vor!«
    »Flieg weiter! Jede Sekunde …«
    »Dann halt mich nicht auf. Für jede Sekunde, die wir verlieren, bist du verantwortlich. Ich werde Brüssel mitteilen, ich hätte dich zum Aussteigen gezwungen.«
    Timo schob sein Gesicht unmittelbar an Ralf heran. »Ich traue dir nicht! Ich lasse dich mit dieser Fracht nicht allein!«
    Der Erdboden war nur noch wenige Meter entfernt. »Mach die Tür auf und spring, wenn ich es dir sage! Um Zeit zu sparen, nehmen wir keinen Bodenkontakt auf …«
    In einem wilden Sturm wirbelten die Gedanken durch Timos Kopf. Ja, am liebsten würde er springen, aber was, wenn Ralf kehrtmachte und ins Landesinnere zurückflog? Oder über den Kanal nach London? Konnte man ihm nach alldem noch trauen?
    »Wenn du dir die Beine brichst, kannst du dich damit trösten, dass wir wertvolle Sekunden gespart haben! Spring jetzt, du sturer finnischer Idiot!«
    Sollte er auf Ralf losgehen und ihn zwingen weiterzufliegen? Timo riss den Gurt los, legte die Hand auf den Griff und öffnete die Tür. Zwei Meter unter ihm war Gras.
    »RAUS!«
    Timo setzte sich auf den Rand der Türöffnung, stellte einen Fuß auf die Landekufe und sprang. Im selben Moment, in dem er aufkam, nahm der Helikopter in steiler Vorlage Höhe auf. Timo hasste sich. Er hatte nachgegeben. Er hatte versagt.
    Plötzlich fuhr er zusammen. Der Hubschrauber drehte in Richtung Land!
    Timos Herz setzte für einen Schlag aus. Im letzten Moment hatte Ralf ihn ausgetrickst. Was hatte er vor? Ein vernichtendes Gefühl des Scheiterns befiel Timo. Er rappelte sich hoch – und dann begriff er, dass er bei dem Sprung die Orientierung verloren hatte. Der Helikopter flog zum Meer! Erst da nahm Timo den Schmerz in seinem rechten Fußgelenk wahr. Dieser Schmerz, der Schock und die Hoffnung, dass Ralf es schaffte, ließen Timo im feuchten Gras zusammensinken. Er schluchzte laut.
     
    57
     
    Ralf schaute zum Horizont und hielt bei voller Geschwindigkeit den Steuerknüppel des Helikopters umklammert. Die schräg einfallende Sonne tanzte auf den Wellen. Immer weiter blieb die belgische Küste hinter ihm zurück.
    Er dachte nichts, er fühlte nichts. Er war einzig und allein darauf konzentriert, den Hubschrauber zu beherrschen und vorwärts zu lotsen, vorwärts, immer nur vorwärts …
    »Zählt die Minuten für mich«, sagte er ins Funkgerät. Er hatte Brüssel mitgeteilt, er sei allein im Helikopter, nachdem er den Finnen in Duinhoek zum Absprung gezwungen habe.
    »Vier Minuten«, sagte eine ruhige Stimme. »Bereit machen zum Senken der Geschwindigkeit.«
    Ralf blickte sich um. Der schwarze Kasten hinter ihm war buchstäblich das Tor zu den Vorhöfen der Hölle.
     
    Vollkommen durcheinander und erschöpft schleppte Timo sich über die Wie se. Sein linkes Bein zog er nach. Er wusste, er hatte es nicht tun dürfen, er hatte seine Pflicht vernachlässigt, doch er war erleichtert. Er sog die kühle Morgenluft ein und spürte die Erde unter sich.
    Sein Knöchel schmerzte und er achtete nicht darauf. Ein schmaler Feldweg führte auf ein Haus zu, vor dem ein Traktor stand. Es roch nach Dung, aber dahinter konnte man den Geruch des Meeres ahnen.
    Timo sah auf die Uhr. Noch drei Minuten bis zur Explosion. Würde die Bombe detonieren?
    Erleichtert registrierte er, dass sich die Zweige der Hofbäume im Wind zum Meer hin neigten.
     
    Ralf saß in der Kabine des Hubschraubers auf dem Boden. Der Luftstrom durch die offene Tür riss an seinen Haaren, der Lärm peitschte seinen ganzen Körper. Trotzdem hörte er das Hämmern seines Herzens in den Ohren. Der Helikopter stand in hundert Metern Höhe über dem Wasser.
    Ralf hielt die Hand vor die Augen, um bei der hereinscheinenden Morgensonne die Zahlen der Flüssigkristallanzeige sehen zu können: 1:02 … 1:01 … 1:00 … 0:59 …
    Eine Windböe ließ den Helikopter schwanken. Ralf hielt sich mit einer Hand an einem Haltegriff fest, die andere Hand legte er auf den Metallkasten. Der kam ihm schwerer vor als je zuvor. Er wollte die Kernladung bis zur Türöffnung schieben, aber auf dem Bodengummi bewegte sie sich nicht von der Stelle.
    Er ließ den Griff los, kniete sich hin und drückte mit beiden Händen und aller Kraft gegen den Kasten,
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