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Ewige Nacht

Ewige Nacht

Titel: Ewige Nacht
Autoren: Ilkka Remes
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unten. »Führt die zur Küste?«
    »Ja«, sagte Timo. »Das ist die Autobahn nach Oostende.«
    Aus dem Kopfhörer kam jetzt eine neue, ruhige Männerstimme: »Die Windrichtung, die wir haben, wird dazu führen, dass der radioaktive Niederschlag nicht an die Küste getrieben wird, sondern auf den Atlantik hinaus. Dort wird er sich gleichmäßig verteilen und sich mit der Hintergrundstrahlung vermischen. Wir werden die Explosion nicht vorab ankündigen. Das ist überflüssig.«
    Je weiter sie Brüssel und das Chaos in der Villa Eden hinter sich ließen, umso mehr schoben sich entsetzliche Bilder aus dem Kongo in Timos Bewusstsein, aber auch Bilder von Aaro und Soile, Erinnerungen und Zukunftsträume überlagerten sich in seinem Kopf. Er konnte den Gedanken an den Tod nicht akzeptieren, aber er konnte auch den Gedanken an eine andere Entscheidung nicht billigen. Selbst wenn Aaro in Sicherheit war, befanden sich doch immer noch zahlreiche Menschen in der Gefahrenzone.
    Hinter ihnen ging die Sonne über dem Horizont auf, und die ersten Morgenstrahlen fielen auf die Erde. In Timos Innerem rangen Selbsterhaltungstrieb und Selbstachtung, Gefühl und Verstand miteinander, und er konnte nichts gegen den Tränenfilm tun, der sich vor seinen Augen bildete und durch den er auf die gewölbte Erdoberfläche sah, auf Felder in der Form exakter Rechtecke, auf dunkelgrüne Wälder, auf Siedlungen, auf Dörfer, in deren Antiquitätenläden er nie mehr zusammen mit Aaro stöbern würde, auf Straßen, über die er nie mehr an den Wochenenden mit Soile und Aaro fahren würde.
    Ralf drückte den Kippschalter und stellte dadurch die Funkverbindung zwischen sich und Timo her.
    »Es ist sinnlos, dass du dich umbringst«, sagte Ralf. »Sinnlos, begreifst du das nicht …«
    »Halt’s Maul, du verfluchter Irrer …« Timos Stimme brach. »Warum hast du die Fronten gewechselt? Warum …«
    »Ich hatte nie vor, Menschen zu töten. Niemand wäre gestorben … Es wären keine Menschen mehr geboren worden, aber niemand wäre gestorben.« Die über Funk vermittelte Stimme wurde härter. »Da unten leben unschuldige Menschen, die vom Großkapital ferngesteuert werden. Ich will ihnen nicht …«
    »Spar dir deine Predigt für den Höllenpförtner auf!« Timo wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Das hier hast du allein zu verantworten.«
    »Nein. Das hier geht auf Sakombis Konto. Aber ich hätte erkennen müssen, dass etwas nicht stimmt … Ich weiß nicht, ab wann er seinen eigenen Plan verfolgt hat. Er kannte Swetlana Orlowa, er schlug den Kongo als Explosionsort vor, er plante die Transportroute der Kernladung …«
    »Die Idee, eine Bombe zur Verbreitung eines Verhütungsvirus einzusetzen, stammt von dir. Ein kranker, ein verrückter Gedanke«, sagte Timo und verstummte. Es war sinnlos, zu streiten, alles war sinnlos.
    Sie überflogen das von Kanälen durchzogene Gent und kürzten den weiten Bogen ab, den die Autobahn unten beschrieb.
    Timo sah auf die Uhr. Noch 19 Minuten. Er versuchte, Soile anzurufen, erreichte sie aber noch immer nicht. Vielleicht war es besser so.
    Ralf besprach irgendetwas mit der Flugleitung in Zaventem, Timo interessierte es überhaupt nicht. Was, wenn die SADM überhaupt nicht explodierte? Wenn die russische Ladung ein Blindgänger war …
    Am Horizont schimmerte das Meer. Timo wusste, dass er das Richtige tat, er tat, was er tun musste. Aaro würde das verstehen, zumindest in späteren Jahren, und ihm den Schmerz verzeihen, den er ihm jetzt bereitete.
    Das blaugraue Meer jenseits der Uferlinie nahm immer mehr Raum in dem Panorama vor ihnen ein. Die Sonnenstrahlen glitzerten auf den Wellen. Timo schloss die Augen und faltete die Hände, obwohl er nicht sonderlich religiös war. Der Anblick dieser grenzenlosen Weite erfüllte ihn mit einem Frieden, der ihm wenige Augenblicke zuvor noch unvorstellbar gewesen war.
    Plötzlich veränderte sich die Flugbahn. Timo öffnete die Augen. Hatten sie an Höhe verloren?
    Timo drückte auf den Kippschalter. »Was ist los?«
    »Nichts. Wir ändern die Flughöhe.«
    Sie verloren rasch an Höhe. Timo richtete sich auf seinem Sitz auf. Unten sah man noch ein paar Felder, Waldstücke, Industrieanlagen und Wohnsiedlungen, die zum Ufer hin dichter wurden.
    »Warum gehst du so tief hinunter?«
    Auf einmal schien sich die Vorwärtsbewegung in freien Fall zu verwandeln. Timo krallte sich fest. »Was machst du denn?«, brüllte er und reckte sich zu Ralf hinüber.
    »Bleib auf
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