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Ewige Nacht

Ewige Nacht

Titel: Ewige Nacht
Autoren: Ilkka Remes
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schon aus wie ein Muttersöhnchen. Er taugte nichts. Die Anführer hatten sich im Vorfeld über die Nachrichtenwege und ihre Taktik verständigt. Wenn sie befahlen, vorwärts zu gehen, wurde vorwärts gegangen; wenn sie zum Anhalten aufforderten, wurde angehalten. Die Anführer standen über Funkgeräte oder Handys in Verbindung. Dadurch behielten sie ständig den Überblick. Die anderen mussten strikt gehorchen, denn mitten im Chaos war es unmöglich, sich ein Gesamtbild der Situation zu verschaffen. Das Wichtigste war, in der eigenen Gruppe zu bleiben, egal was passierte. In Göteborg und Nizza waren nur jene verletzt worden, die aus irgendeinem Grund plötzlich isoliert worden waren.
    Noora drängte sich in die vorderste Reihe: »Was ist los?«, rief sie.
    Niemand antwortete. Die Stimmung war gespannt, keine Lieder oder Parolen waren mehr zu hören. Die Luft stand, es kam nicht einmal etwas Wind vom Meer – von jenem Meer, über das schon vor vielen hundert Jahren Handelsschiffe aus Indien, Amerika und Arabien nach Genua gekommen waren. Genua gehörte zu den Hauptstädten der frühen Globalisierung, insofern eignete sie sich gut als Gastgeberin des G8-Gipfeltreffens und noch besser als Bühne, auf der die Massenbewegung der Globalisierungsgegner ihre Macht demonstrieren konnte.
    Ein gepanzertes Fahrzeug näherte sich der Absperrung, die Wasserkanone auf dem Dach auf die Demonstranten gerichtet. Oder war es eine Tränengaskanone? Jemand schrie.
    »Das ist nur Wasser«, rief Noora und drängte sich an Carlo vorbei nach vorn, bis sie gegen den Plexiglasschild eines Bereitschaftspolizisten gedrückt wurde.
    Unter dessen Helm ragten dunkle, verschwitzte Locken hervor. Noora blickte dem Mann direkt in die Augen. An irgendeinem anderen Ort, in einem anderen Moment hätte er der blonden finnischen Frau vielleicht hinterhergepfiffen. Jetzt waren sie Gegner, beide hatten Angst, beide waren aufgepeitscht vom Adrenalin.
    »Auf den Boden!«, brüllte der Polizist.
    Noora spuckte gegen das Plexiglas. Hinter diesen Schildern standen Experten der Gewalt. Mit Waffen, Gas, Wasserwerfern und Panzerfahrzeugen, mit Disziplin und Erfahrung. In deren Schutz hockten acht Staatsoberhäupter im Palazzo Ducale und beschlossen mit ihren Entscheidungen die Zerstörung der Erde. Mit welchem Recht verfügten diese wenigen Reichen über Dinge, die die Massen von Armen angingen? Mit welchem Recht Entschieden acht Männer für sechseinhalb Milliarden Menschen?
    In einiger Entfernung krachte es dumpf.
    »Gas!«, schrie jemand.
    Noora griff nach dem zusammengerollten roten Tuch mit der gelben Faust, das sie sich um den Kopf gebunden hatte. »Nicht die Augen berühren!«, rief sie.
    Die Menschen um sie herum wurden unruhig, auch Carlo, der per Telefon versuchte, Kontakt mit jemandem aufzunehmen.
    »An Tränengas ist noch keiner gestorben«, rief Noora und band sich das Tuch um Mund und Nase, dass nur noch die Augen sichtbar blieben. Aus der Tasche zog sie eine in Folie eingewickelte halbe Zitrone und rieb den Saft auf das Tuch, damit er das Gas neutralisierte. Essig funktionierte auch, aber Noora konnte den Geruch nicht ausstehen.
    Ein Teil der Menschen um sie herum tat es ihr nach, aber kaum jemand hatte Tücher oder Zitronen dabei. So wichen sie zurück; mit ihnen auch Carlo, der an seinem Telefon herumfummelte.
    »Bleibt auf eurem Platz!«, rief Noora. Am Himmel erschienen unterdessen immer mehr Helikopter. »Das wollen sie doch nur, dass wir auseinander laufen!«
    Da ertönte ein Schuss.
    Noora fuhr zusammen, genau wie der Polizist vor ihr. Beide blickten auf einen orangefarbenen Container, vor dem die Menschenmenge in heftige Bewegung geraten war.
    »Enzo!«, schrie jemand hysterisch.
    »Chiamate un’ ambulanza!«, rief ein lockenköpfiger Vertreter einer sozialistischen Kulturorganisation.
    Noora hielt nach Mitgliedern ihrer Gruppe Ausschau, aber vergebens. Auch von den Leuten aus Helsinki war niemand zu sehen. Die gehörten zu einer anderen Gruppe, und sie hatte keine Zeit damit vergeudet, sich mit Finnen abzugeben, schon gar nicht, nachdem sie Ralf kennen gelernt hatte. Ralf war viel gebildeter und erfahrener als die jungen finnischen Aktivisten.
    »Via, via«, schallte es metallisch aus einem Megaphon. Das Heulen eines Krankenwagens drang immer lauter in das Durcheinander. Noora rannte ein paar Schritte, um zu sehen, was passiert war. Eine blonde junge Frau kam ihr weinend entgegen. Noora kannte sie, es war die neue Schwedin aus ihrer
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