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Ewige Nacht

Ewige Nacht

Titel: Ewige Nacht
Autoren: Ilkka Remes
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Gruppe, und Noora legte ihr den Arm um die Schulter.
    »Da liegt einer auf der Straße«, schluchzte das Mädchen aus Stockholm auf Englisch, »er blutet und blutet!«
    »Diese Schweine«, keuchte Noora. »Sind Fotografen da? Wir müssen einen Fotografen und einen Journalisten finden …«
    »Da sind welche. Aber ich will hier weg!«
    »Nimm dich zusammen! Was ist los mit dir?«
    Noora ließ die Schwedin stehen und drängte sich zu dem Krankenwagen durch, der mitten in der Menschenmenge stand. Sie hatte das Gefühl, sich unter Kontrolle zu haben, und genoss ihre Gelassenheit.
    Am Rande des Platzes stießen Bereitschaftspolizisten heftig mit den weiß gekleideten Profis von Ya Basta zusammen. Diese radikale Linksgruppierung gehörte zu den Autonomen, den Tutti Bianchi, wie sie von den Leuten hier genannt wurden. Eine Woche zuvor hatte Berlusconi beschlossen, Genua für Demonstranten zu sperren, aber Ya Basta hatte dem Gipfeltreffen den Krieg erklärt.
    Schon in Prag hatte Noora die Entschlossenheit von Ya Basta bewundert. Ihre Mitglieder trugen Schulterpolster wie amerikanische Footballspieler, ihre Knie und Ellbogen waren geschützt wie die von Eishockeyspielern, und sie trugen Helme. Weiße Overalls, wie sie bei der Arbeit mit Asbest verwendet wurden, vollendeten ihr Outfit, und jedem hing eine Gasmaske vor der Brust. So waren sie einigermaßen gegen Schlagstöcke und Tränengas geschützt. Ihr größter Vorsprung aber waren Erfahrung und Disziplin. Sie kannten die Taktik der Gegenseite: Die Polizei war nicht in der Lage, eine große Menschenmenge aufzuhalten, das hätte zu viele ihrer Männer gebunden.
    »Mörder! Mörder!«, hallte es in der Hitze wider. Das Jaulen der Sirenen mischte sich mit dem Knattern der Hubschrauber. Der Schuss hatte die Gemüter erregt, viele weinten. Noora verachtete diese Leute. Sie sah sich ruhig nach einem Fotografen um. Die Situation musste genutzt werden.
    » Siamo tutti clandestini «, rief eine Gruppe im Chor, wir sind alle illegale Einwanderer, Freiwild, missbraucht von den Kapitalisten.
    Ein starkes Gefühl von Solidarität durchfuhr Noora. Sie war keine illegale Migrantin, aber sie fühlte sich ihnen plötzlich ganz nah – als sei sie eine von ihnen, eine von den Unglücklichen, die mit allen Mitteln versuchten, übers Mittelmeer in die Festung Europa hineinzukommen.
    Nooras Telefon piepte. Rasch öffnete sie die Mitteilung. Was sie da las, brachte sie vollkommen durcheinander.
    H OL DEINE S ACHEN UND VERSCHWINDE AUS G ENUA. S OFORT. I N DIESER S EKUNDE. R UF MICH JETZT NICHT AN. R .
    Sie schob das Handy in die Tasche. War Ralf verrückt geworden? Obwohl sie zögerte, trugen ihre Beine sie bereits zielstrebig zur Piazza Corvetto. Sie wurde hier gebraucht, diese heulenden Jammerlappen hatten eine Anführerin nötig, aber Ralf schickte ihr eine solche SMS nicht zum Scherz.
    Instinktiv beschleunigte sie ihre Schritte und bog rechts in die Via Sibari ab. Sie lief Richtung Autobahn Antonio Gramsci, die – auf Pfeilern gebaut – den Hafen von der Altstadt trennte. Im Laufen nahm Noora das Halstuch ab und stopfte es in ihren kleinen Rucksack.
    Der Einsatz bewaffneter Polizei war erbärmlich. Noora hasste Berlusconi, der mit falschen Karten spielte. Er hatte erklärt, neun Vertreter der Dritten Welt einzuladen, als Vermittler zwischen den Protestgruppen und der G8, darunter Nelson Mandela, den Präsidenten von Nigeria und den Premierminister Südafrikas.
    Doch diese Männer hatten den Mund erst gar nicht aufgemacht! Am liebsten wäre Noora der G8 selbst entgegengetreten.
    Die Straßen wurden jetzt zu schmalen Gassen, die Häuser schäbiger. Noora dachte an Ralfs Nachricht. Seltsam – was hatte das zu bedeuten? Seine Nachricht war so geheimnisvoll wie er selbst. Trotz der Situation durchströmte Noora eine Welle warmen Gefühls. Sie war berauscht von diesem Mann, von der Hitze und von Genua, von den steilen Erhebungen, den alten Treppen, den engen Gassen, von den Häusern mit den schiefen Fensterläden, von denen die Farbe abblätterte.
    Sie ließ das Chaos hinter sich zurück. Das Sonnenlicht reichte nicht bis auf die Straße, brachte aber die Wäsche zwischen den oberen Fensterreihen zum Leuchten. Aus den Wohnungen drang das Klappern von Geschirr, man hörte Wortwechsel und den gepressten Gesang von Shakira.
    Ende Juli war Ferienzeit in Genua, und viele Einwohner hatten die Stadt verlassen. Nur die Armen waren geblieben. Sie hatten Angst, dass die Demonstranten ihnen die Fenster
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