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Ewige Nacht

Ewige Nacht

Titel: Ewige Nacht
Autoren: Ilkka Remes
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Englisch. »Oder ich schicke eurem Boss die Rechnung.«
    Die Wohnung nahm den gesamten ersten Stock des kurz vor der Jahrhundertwende erbauten Stadthauses in dem Brüsseler Stadtteil Ixelle ein. Sie war komplett mit alten Möbeln und zahllosen antiken Gegenständen gefüllt. Der größte Teil war alles andere als echt antik, denn für Timo war das einzige Kriterium bei der Auswahl eines Einrichtungsstücks, dass es ihm gefiel.
    Das galt auch für die Poster an den Wänden. Warum echte, aber höchstens mittelmäßige Ölbilder aufhängen, wenn man in Museumsshops Plakate von Meisterwerken bekam? Am liebsten mochte Timo die Bilder von Bruegel und van Eyck.
    Hätte man von der Wohnung ein Schwarzweißfoto mit Sepiatönung gemacht, wäre nur schwer zu entscheiden gewesen, ob die Aufnahme 1903 oder hundert Jahre später entstanden war. Die Wahrheit offenbarten die wenigen Haushaltsgeräte, der tragbare Fernseher und die Reihen mit VHS-Kassetten in dem Bücherregal, das eine ganze Wand einnahm. Auf dem Videorecorder lag ›Blondinen bevorzugt‹, den sich der Hausherr am Wochenende ungefähr zum dreißigsten Mal angesehen hatte – nicht wegen Marilyn Monroe, sondern wegen Jane Russell.
    Der Franzose mit der dicken Brille spähte in das winzige Zimmer, das als Kleiderkammer diente. Dort hing eine Kletterausrüstung an der Wand: Karabinerhaken, Gurte, Seile, Helm, Eispickel. Instinktiv blickte der Mann zu Timo, der für seinen Geschmack besser auf das Sofa als an eine Kletterwand passte.
    Ein anderer aus der Gruppe sah sich verwundert den Computer an, der in das Gehäuse eines uralten Röhrenradios eingebaut war. Timo hatte die Apparatur im Frühling von seinem Sohn zum 38. Geburtstag bekommen. Auf der Rückseite war ein moderner Anschluss angebracht, von dem die Kabel zum Bildschirm und zur Tastatur ausgingen.
    »Regardez ça!«, rief der Belgier mit der Lederjacke und dem Vokuhila-Schnitt seinen Kollegen zu. »Jetzt ist die Kacke am Dampfen.«
    Timo verstand den schnell gesprochenen Satz nicht, sah aber gleich, was los war. Der Belgier nahm Einweghandschuhe aus seinem Hartschalenkoffer, zog sie sich mit wichtiger Miene an und beugte sich über den Computer. Seine Kollegen traten zu ihm und warfen Timo misstrauische Blicke zu.
    Der Typ mit dem Vokuhila-Schnitt zog das Kabel für die Tastatur aus der Rückwand und richtete sich auf. Er hielt das Ende des Kabels zwischen den Fingern wie eine Sprengladung, die jeden Moment hochgehen konnte.
    Demonstrativ hielt er Timo den Stecker vor die Nase: »Wissen Sie, was das ist, Monsieur Nortamo?«
    Timo wusste es.
    Lieber hätte er es nicht gewusst, aber ihm war klar, worum es sich bei dem steckerähnlichen Teil, etwas dicker als das Kabel, handelte: Es registrierte die Anschläge auf der Tastatur in Form von Zeichenketten, denen man entnehmen konnte, was auf dem Computer geschrieben wurde, Passwörter inklusive.
    Der Vokuhila-Kollege hielt eine Plastikhülle auf, und die anderen beiden schoben gemeinsam das Kabel hinein, als handelte es sich um einen kostbaren Schatz.
    Timo ging ans Telefon, aber einer der Männer hob wichtigtuerisch die Hand. »Keine Telefongespräche mehr aus dieser Wohnung. Gehen wir.«
    »Macht keine Witze. Ich muss telefonieren.«
    Timo spürte einen brennenden Schmerz, als man ihm den Arm auf den Rücken drehte.
    »Was soll das?«, schnauzte er den Chef der Gruppe an, versuchte sich dann aber zu beherrschen. Leicht fiel ihm das nicht.
    »Begreifen Sie denn nicht, Monsieur Nortamo?«, zischte der Mann mit der dicken Brille so dicht vor Timos Gesicht, dass Timo den Speichelspritzern ausweichen musste.
    »Das ist nicht das, wonach es aussieht …«
    »Nein. Bestimmt nicht«, fauchte der mit der Brille.
    Im selben Augenblick wurde Timo auf den schmalen Gang hinausgestoßen. Er stolperte und fiel zu Boden.
    Das war der Tropfen, der für ihn das Fass zum Überlaufen brachte.
    Scheinbar ruhig stand er auf, und Vokuhila streckte die Hand aus. Als Timo sie ergriff, riss er den Mann mit einem plötzlichen, kräftigen Ruck zu Boden.
    »Oh, verzeihen Sie«, murmelte er.
    »Jetzt tun Sie doch nicht so«, brüllte der Belgier wütend und schimpfte noch, als sie schon die Treppe mit dem abgetretenen Teppichboden hinuntergingen. Timo atmete tief durch. Er war sauer, dass er sich nicht unter Kontrolle gehabt hatte. Selbstbeherrschung war für ihn alles – er wollte auf keinen Fall so ein Hitzkopf wie sein Vater sein. Leider wusste er, dass er genau das war, und irgendwie
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