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Ewige Nacht

Ewige Nacht

Titel: Ewige Nacht
Autoren: Ilkka Remes
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Porvoo, östlich von Helsinki, floss.
    Aaro rief seinen Vater vom Flur aus an. Das Haus war leer, seine Großmutter war noch in ihrem Laden.
    »Hallo«, meldete sich sein Vater in Brüssel.
    »Hi. Du hast angerufen«, sagte Aaro in munterem Tonfall, in dem er selbst die künstliche Nuance wahrnahm.
    »Es geht um das kleine Gerät am Tastaturkabel.«
    Stille.
    »Hast du gehört?«
    »Welches kleine Gerät?«, fragte Aaro so unschuldig, wie er nur konnte.
    »Lass den Unsinn!«
    In der Stimme seines Vaters lag ein Unterton, der klarmachte, dass jetzt nicht der Zeitpunkt für Scherze war.
     
    Timo telefonierte auf dem Flur im zweiten Stock, vor dem Büro seiner Chefin. Aaro kannte den wahren Charakter seiner Arbeit nicht, auch sonst wusste so gut wie niemand darüber Bescheid.
    »Wann hast du das Ding installiert?«
    »Wieso regst du dich wegen diesem KeyKatch so auf …«
    »Begreifst du nicht, was du da getan hast? Du kannst doch nicht einfach die Computer anderer Leute anzapfen, und schon gar nicht meinen. Wann hast du das Ding installiert?«
    Am anderen Ende war ein ungeduldiger Seufzer zu hören. »Als ich zuletzt bei dir war. Anfang Juli. Am sechsten, um vierzehn Uhr fünfunddreißig. Musst du es noch genauer wissen?«
    »Wo hast du es her?«
    »Bestellt.«
    »Wo?«
    »In England.«
    »Hast du die Quittung noch?«
    »Na klar. Da ist ein Jahr Garantie drauf. Das heißt, Moment mal … Ich hab sie wahrscheinlich doch nicht mehr.«
    »Fax mir die Quittung hierher.«
    »Hä?«
    »Geh zu Oma in den Laden und fax sie mir an die Nummer, die ich dir jetzt gebe …«
    »Ich habe doch gerade gesagt, dass ich sie wahrscheinlich nicht mehr habe.«
    Timo hörte, dass sein Sohn log. »Hast du was zu schreiben?«
    »Ich kann sie dir nicht faxen. Oma hat was zu erledigen, der Laden ist zu. Was für Informationen von der Quittung brauchst du denn? Die kann ich dir so geben, geht auch ohne Fax …«
    »Du machst jetzt genau, was ich dir sage.«
     
    Aaro kroch unters Bett, hob ein Stück vom Dielenboden an und schob die Hand in den Spalt. Er nahm ein Briefkuvert aus dem Versteck und zog die Quittung heraus. Dann schlüpfte er in seine Schuhe, zog sich das Kapuzen-Sweatshirt über und verließ das Haus. Am Himmel versuchte die Sonne, hinter den Wolken hervorzukommen. Der Ahorn im Hof war zu früh gelb geworden, und seine Großmutter fürchtete schon, dass man ihn womöglich würde fällen müssen. Unter dem Baum stand das in Belgien zugelassene Auto seines Vaters, ein großer alter Benz der S-Klasse, mit dem sie nächste Woche gemeinsam nach Brüssel zurückfahren würden. Der Gedanke an den Schulanfang deprimierte Aaro.
    Jemand hatte vor dem Tor eine leere Coladose stehen lassen. Die kickte Aaro nun vor sich her. Dabei betastete er die Quittung in seiner Hosentasche. Warum regte sich sein Vater eigentlich so auf?
    Und vor allem: Wie sehr würde er sich erst aufregen, wenn er auf der Quittung sah, dass Aaro den KeyKatch mit Omas Visa-Karte im Internet gekauft hatte?
    Aaro blieb stehen und sah sich die Quittung an. Er könnte die Angaben des Bestellers abdecken und eine Kopie machen, aber das würde nichts helfen. Seinem Vater fielen solche Dinge auf. Aaro seufzte und ging weiter.
    Der Laden seiner Oma befand sich in einem senfgelben Holzhaus in der Jokikatu, nur wenige Meter vom Rathausplatz entfernt. Es war die erste Woche im September, und für Aaros finnische Freunde hatte die Schule schon zwei Wochen zuvor begonnen. Die finnischen Touristen waren aus Porvoo verschwunden, aber auf dem Rathausplatz stiegen braun gebrannte amerikanische Touristen in weißen Kleidern und mit Kameras um den Hals aus einem Luxusreisebus. Hinter dessen Windschutzscheibe steckten ein Nummernschild und ein Zettel mit der Aufschrift: »Sea Princess«. Die Pensionäre waren von einem Luxusliner, der in Helsinki festgemacht hatte, hierher gebracht worden. Sie blickten sich staunend um und verschwanden in den verschiedenen Souvenirläden.
    Aaro hoffte, einige von ihnen würden sich auch in den Laden seiner Oma verirren, aber das war eine vergebliche Hoffnung. Sie trauten sich nicht in dieses heruntergekommene Gebäude hinein, das innen schlecht beleuchtet war und in dem es nach Zigaretten roch. Spätestens der Anblick seiner Oma brächte sie dazu, kehrtzumachen und einen halogenbeleuchteten Design-Shop aufzusuchen.
    Die Türglocke klingelte vertraut. »Geschäft« war Aaros Meinung nach ein leicht übertriebenes Wort, um das Etablissement zu beschreiben.
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