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Wintermädchen

Wintermädchen

Titel: Wintermädchen
Autoren: Laurie Halse Anderson
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Jene von Staunen erfüllt nun streckete hurtig die Hände nach dem ergötzlichen Spiel; doch auf tat flugs sich die weite Erd’ in der Nysischen Flur, […] sie schrie laut auf mit der Stimme […], und der Unsterblichen keiner und keiner der sterblichen Menschen hörte der Jungfrau Ruf.

Homer: Hymne an die Göttin Demeter ,
Nachdichtung von Eduard Mörike

Der König ordnete an, dass man sie in Frieden schlafen lassen sollte, bis die Stunde gekommen sei, zu der sie aufgeweckt werden würde.

Charles Perrault: Die schlafende Schöne im Walde , 1697,
übersetzt von Doris Distelmaier-Haas
    001.00
    Und dann sagt sie es mir, Wörter und Cranberrymuffin krümeln aus ihrem Mund, die Kommas fallen ihr in den Kaffee.
    Sie teilt es mir in vier Sätzen mit. Nein, fünf.
    Ich will das nicht hören, aber es ist zu spät. Die Wahrheit pirscht sich heran und bohrt sich in mich hinein. Als sie zum Schlimmsten kommt,
    … ihr lebloser Körper wurde im Zimmer eines Motels
aufgefunden, ganz allei n …
    gehen bei mir sämtliche Rollläden herunter, ich mache dicht. Ich nicke nur noch, tue nur noch so, als ob ich hinhöre, als ob wir ein Gespräch miteinander führen – ein Unterschied, der ihr nie auffällt.
    Es ist nicht schön, wenn ein Mädchen stirbt.
    002.00
    »Wir wollten nicht, dass du es in der Schule erfährst oder aus den Nachrichten.« Jennifer stopft sich das letzte Stück Muffin in den Mund. »Geht’s dir auch wirklich gut?«
    Ich öffne den Geschirrspüler und beuge mich in die Dampfwolke, die herausquillt. Am liebsten würde ich hineinkriechen und mich zwischen Schüsseln und Tellern zusammenrollen. Dann könnte meine Stiefmutter Jennifer die Klappe schließen, auf 60 ° C INTENSIV stellen und anschalten.
    Der Dampf wird eiskalt, als er mein Gesicht berührt. »Ich komm schon klar«, lüge ich.
    Sie greift nach der Schachtel Haferflockenkekse, die auf dem Tisch steht. »Das muss schrecklich für dich sein.« Reißt das Pappband auf. »Schlimmer als schrecklich. Gibst du mir mal eine saubere Dose?«
    Ich hole eine leere Plastikdose aus dem Schrank und reiche sie ihr über die Kücheninsel. »Wo ist Dad?«
    »Er hat eine Personalbesprechung.«
    »Woher weißt du das mit Cassie?«
    Sie bröselt die Kekse an den Rändern ab, ehe sie sie in die Dose legt, damit sie wie selbst gebacken aussehen. »Gestern Abend hat deine Mutter angerufen und mich informiert. Sie möchte, dass du sofort zu Dr . Parker gehst, statt bis zum nächsten Termin zu warten.«
    »Was hältst du davon?«, frage ich.
    »Finde ich gut«, sagt Jennifer. »Ich schau mal, ob sie dich heute Nachmittag noch zwischenschieben kann.«
    »Spar dir die Mühe.« Ich ziehe die obere Lade des Geschirrspülers heraus. Die Gläser stoßen kleine Schreie aus, als ich sie berühre. Wenn ich sie in die Hand nehme, werden sie zerspringen. »Nicht nötig.«
    Sie hält mitten im Krümeln inne. »Cassie war deine beste Freundin.«
    »Das war einmal. Ich gehe nächste Woche zu Dr . Parker, wie geplant.«
    »Na ja, das musst du wohl selbst entscheiden. Versprichst du mir, deine Mutter zurückzurufen, um mit ihr darüber zu reden?«
    »Versprochen.«
    Jennifer wirft einen Blick auf die Uhr der Mikrowelle und brüllt: »Emma! Vier Minuten!«
    Meine Stiefschwester Emma antwortet nicht. Sie ist im Wohnzimmer, hypnotisiert vom Fernseher und ihrer Schüssel Blaubeerpops.
    Jennifer knabbert an einem Cookie. »Ich rede nicht gern schlecht über Tote, aber es ist gut, dass du dich nicht mehr mit ihr rumgetrieben hast.«
    Ich schiebe die obere Lade wieder hinein und ziehe die untere heraus. »Warum?«
    »Cassie war völlig am Ende. Sie hätte dich mit runtergerissen.«
    Ich greife nach dem Steakmesser, das sich zwischen den Löffeln versteckt. Der schwarze Griff ist warm. Als ich es herausziehe, fährt die Klinge durch die Luft und schneidet die Küche in Streifen. Dort ist Jennifer, die ihrer Tochter für die Schule gekaufte Kekse in eine Plastikdose packt. Dort ist der leere Stuhl von Dad, der so tut, als wären diese morgendlichen Arbeitstreffen ganz und gar unvermeidlich. Und dort der Schatten meiner Mutter, die lieber telefoniert, weil ein Gespräch unter vier Augen zu lange dauert und normalerweise in Geschrei endet.
    Hier steht ein Mädchen mit einem Messer in der Hand. Auf dem Herd klebt Fett, der Geruch von Blut liegt in der Luft, und in den Ecken sammeln sich haufenweise böse Worte. Wir sind darauf getrimmt, es nicht zu merken. Nichts von alldem.
    … ihr lebloser Körper
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