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Eine Mittelgewichts-Ehe

Eine Mittelgewichts-Ehe

Titel: Eine Mittelgewichts-Ehe
Autoren: John Irving
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Graduierten eines College mindestens drei Jahre einer Fremdsprache obligatorisch sein sollten. (Er war Dozent für Deutsch.) Selbstredend stichelte man gegen ihn, aber man stichelte vorsichtig. Er war ein zu athletischer Debattierer, als daß man ihn leichtfertig provozierte; er hatte den Sarkasmus zu schmerzhafter Schärfe entwickelt und besaß die zweifelhafte Fähigkeit, in einer Welt (wie dem akademischen Ausschuß), wo Weitschweifigkeit eine Tugend ist, jedermann totzureden. Außerdem war es trotz seiner Zugehörigkeit zur Deutschen Abteilung wohlbekannt, daß er der Ringertrainer war. In der Hinsicht war er geradezu stur, besonders Fremden gegenüber. Wenn er vorgestellt wurde, gab er nie zu, daß er an der Deutschen Abteilung lehrte.
    »Sind Sie an der Universität?«
    »Ja, ich trainiere die Ringer«, pflegte Severin Winter zu sagen. Einmal sah ich Edith zusammenzucken.
    Aber er schüchterte nie durch körperliche Gewalt ein. Auf einer Party für neue Fakultätsmitglieder hatte er Streit mit einem Bildhauer, der einen kräftigen Haken in Winters irreführenden Football von einem Bauch schlug. Obwohl der Bildhauer einen Kopf größer war als Winter und fünf Kilo schwerer, ließ sein Schlag seinen Arm abprallen wie Totgewicht von einem Trampolin. Winter rührte sich kein bißchen. »Nein, nein«, sagte er ungeduldig zu dem Bildhauer. »Sie müssen Ihre Schulter in den Schlag legen, Ihr Gewicht von den Fersen wegverlagern ...« Es gab keine Andeutung von Vergeltung; er spielte den Trainer, eine harmlose Rolle.
    Sein Beharren auf dem Sportleben - mit dem er mehr als ein paar Freunde langweilte - ließ mich einmal argwöhnen, er sei überhaupt nie ein guter Ringer gewesen, und als man mich daher bat, an der University of Iowa über den historischen Roman zu lesen, dachte ich mir, ich könnte ja einmal Winters früheren Trainer aufsuchen. Ich hatte plötzlich die Vorstellung, Jefferson Jones von der Ohio State könnte einen Gegner, den er in fünf Kämpfen fünfmal besiegt hatte, erfunden haben.
    Ich hatte keine Schwierigkeiten, den Trainer zu finden, der als Ruheständler in irgendeinem ehrenamtlichen Job im Sportinstitut herumbiesterte, und fragte ihn, ob er sich an einen 71-Kilo-Mann namens Severin Winter erinnere.
    »Ob ich mich an ihn erinnere?« sagte der Trainer. »Doch, der hätte ein Großer werden können. Er hatte alles drauf, und den Willen, und er griff einen ständig an, wenn Sie wissen, was ich meine.«
    Ich sagte ja.
    »Aber die großen Kämpfe hat er versiebt«, sagte mir der Trainer. »Psychisch hat er eigentlich nicht versagt. Man kann's nicht als Verkrampfen bezeichnen - das eigentlich nicht. Aber er machte einen Fehler. Er machte nur große Fehler«, befand der Trainer, »und nicht zu viele. Bei den großen Kämpfen ist allerdings ein Fehler genug.«
    »Das glaube ich gern«, sagte ich. »Aber in einem Jahr wurde er doch Zweiter bei den Big Ten, in der Klasse bis 71 Kilo?«
    »Stimmt«, sagte der Trainer. »Aber die Gewichtsklassen haben sich seit damals geändert. Das ist heute nämlich die 72-Kilo-Klasse. Früher waren's 56, 59, 62, 67, 71 und so weiter, aber heute sind's 54, 57, 61, 64, 68, 72 und so weiter - wissen Sie.«
    Ich wußte es nicht, und es war mir völlig egal. Jeder sagt, das akademische Leben sei ein einziges, langes Gebet ans Detail, aber was ein Leben voller endloser, langweiliger Statistiken angeht, ist der Sport kaum zu übertreffen.
    Gelegentlich tadelte ich Winter wegen seiner großen Liebe. »Als ehemaliger 71-Kilo-Mann muß es schön sein, Severin, sich mit einem Gebiet zu beschäftigen, das sich in zehn Jahren um ein Kilo verändert hat.«
    »Was ist mit der Geschichte?« sagte er dann. »Um wieviel Kilo hat sich die Zivilisation verändert? Ich würde schätzen, um ungefähr hundert Gramm seit Jesus und ungefähr fünfzehn Gramm seit Marx.«
    Winter war ein gebildeter Mann, sein Deutsch war natürlich perfekt, und offensichtlich war er ein guter Lehrer - obwohl einiges dafür spricht, daß Muttersprachler nicht immer die besten Lehrer ihrer Sprache abgeben. Er war ein guter Ringertrainer, aber wie er den Job bekam, war reiner Zufall. Er wurde eingestellt, um Deutsch zu unterrichten, aber er versäumte nie ein Ringertraining und wurde ziemlich rasch inoffizieller Assistent des Cheftrainers, eines klotzigen Schwergewichtlers aus Minnesota, der damals, als Winter für Iowa rang, sowohl Big-Ten- als auch Landesmeister gewesen war. Der Ex-Schwergewichtler starb kurz
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