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Eine Mittelgewichts-Ehe

Eine Mittelgewichts-Ehe

Titel: Eine Mittelgewichts-Ehe
Autoren: John Irving
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auf Wache. Winter hat angedeutet, die Reservisten hätten den armen Menschen die Tiere als Rationen zugeteilt, immer eins aufs Mal - eine Art Schwarzmarkt-Zoo, ihm zufolge. Aber dann wird die Geschichte zweifelhaft. Spät in der Nacht des 1. April 1945, zwölf Tage bevor die Sowjets Wien einnahmen, versuchte irgendein Schwachkopf, alle Tiere herauszulassen.
    »Mein Vater«, sagte Winter einmal, »liebte Tiere und war genau die richtige Sorte Pfundskerl für den Job. Er war ein glühender Antifaschist, und es muß seine letzte Tat für den Untergrund gewesen sein ...«
    Denn natürlich wurde der arme Schwachkopf, der diese Tiere herausließ, sofort aufgefressen. Schließlich waren die Tiere auch hungrig. Die befreiten Tiere brüllten so laut, daß die hungrigen Kinder aufwachten. Der Zeitpunkt war so gut wie jeder andere, um das letzte Vieh in Wien zu schlachten; die Sowjets waren schon in Budapest. Welcher vernünftige Mensch würde der russischen Armee einen Zoo voller Essen überlassen?
    »Und so ging der Plan in die Hose«, hat Winter gesagt. »Anstatt sie freizulassen, brachte er sie um, und sie fraßen ihn zum Dank dafür auf.«
    Nun ja, falls ein solcher Plan je existiert hat und falls Winters Vater mit dieser Zoopleite überhaupt mehr zu tun hatte als mit Lennhoffs Flucht. Falls er zurückblieb, warum dann nicht Heldentum als Grund angeben?
    Utsch sagt, sie könne Severins Regung nachempfinden. Das glaube ich gern! Ich habe mir einmal meine eigenen Gedanken über Utschs und Severins ähnliche Vorfahren gemacht. Was, wenn Utschs Vater, der Saboteur von Messerschmitts in Wiener Neustadt, es mit zweien getrieben und ein Doppelleben geführt hätte? Was, wenn er in Wien, wo er den flotten, jungen Künstler mimte, diese junge Schauspielerin angebufft, mit einem Haufen Zeichnungen und Gemälde eine Vaterschaftsklage abgebogen, die Messerschmitts in die Luft gejagt hätte, gefaßt, aber nicht umgebracht worden wäre (er entkam irgendwie), keine Lust gehabt hätte, zu einer vergewaltigten Frau nach Eichbüchls zurückzukehren, sich am 1. April 1945 besonders schuldig gefühlt und versucht hätte, mit der Befreiung des Tiergartens seine Sünden zu sühnen?
    Sie sehen, wir Verfasser historischer Romane müssen uns für das, was hätte geschehen können, ebensosehr interessieren wie für das, was geschehen ist. Meine Version würde Severin Winter und Utsch zu Verwandten machen, was Teile ihrer späteren Verbindung erklären würde, die für mich merkwürdig bleiben.
    Aber manchmal beruhigt mich der Gedanke, daß sie einfach ihre Kriegsgeschichten gemeinsam hatten. Zwei Schwergewichtler aus Mitteleuropa mit ihrer gebündelten Wurstigkeit! Wenn Utsch ärgerlich war, reduzierte sie die Welt gern auf einen Orgasmus. Severin Winter traute der Welt selten viel mehr zu. Aber wenn ich es mir überlege, hatten sie mehr als einen Krieg gemeinsam.
    So sind beispielsweise diese zusammengerollten Leinwände und Zeichnungen, die Kurt Winter Katrina Marek gab, sehr verräterisch. Den ganzen Weg nach England über sah sie sie nicht ein einziges Mal an, doch am britischen Zoll war sie verpflichtet, die Mappe zu öffnen. Es waren alles Akte von Katrina Marek, und es waren alles erotische Akte. Das überraschte Katrina ebensosehr, wie es den Zollbeamten überraschte, denn Kurt Winter war an Akten oder irgendeiner anderen Form von erotischer Kunst nicht interessiert. Am bekanntesten war er durch ziemlich regenbogenfarbige Koloristenarbeiten und durch einige erfolglose Variationen von Schiele und Klimt, zwei österreichischen Malern, die er zu sehr nachahmte und bewunderte.
    Katrina stand verlegen am Zollschalter, während ein interessierter Zollbeamter eingehend jede Zeichnung und jedes Gemälde in der Mappe ihres Mannes betrachtete. Sie war hochschwanger und sah vermutlich sehr mitgenommen aus, aber der Zollbeamte, der sie (für eine der Zeichnungen als Bestechungsgeld) gnädig nach England hereinließ, sah sie wahrscheinlich mehr, wie Kurt Winter sie gesehen hatte - weder schwanger noch angegriffen.
    Und von den Malern, die Katrina helfen sollten, in London Arbeit als Schauspielerin zu finden, wurde natürlich nicht erwartet, daß sie sich verpflichtet fühlten, diesen Dienst aus Achtung für die Kunst von Kurt Winter zu leisten. Er schickte keine Kunst nach England; er schickte eine österreichische Schauspielerin mit kümmerlichem Englisch, schwanger, anmutslos und verschreckt, in ein englischsprachiges Land, wo es niemand gab, der sich
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