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Stahlstiche

Stahlstiche

Titel: Stahlstiche
Autoren: Fritz J. Raddatz
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    Vorwort
    Als Fritz J. Raddatz 2003 mit seinem Erinnerungsbuch «Unruhestifter» auf Lesereise war, bin ich ihm das erste Mal begegnet. Es war im Restaurant des Münchner Literaturhauses nach seiner Lesung. Ich wurde ihm vorgestellt, und damit er, der gut gelaunt war und geradezu in Fahrt, sich ein Bild von dem jungen Literaturkritiker, der sein Tischnachbar war, machen konnte, fragte er mich: «Was war Ihr letzter Verriß?» Seine Augen funkelten dabei, und die Frage stand im Raum wie ein guter Aufschlag beim Tennis, aus dem sich alle weiteren Bewegungen wie von selbst ergeben.
    Doch die Frage irritierte mich. Nicht etwa, weil mir mein letzter Verriß nicht einfallen wollte, sondern weil ich das Gefühl hatte, daß meine Antwort nie jene Höhe erreichen würde, auf die Raddatz’ Frage zielte. «Was war ihr letzter Verriß?», meinte ja nichts anderes als: An einem Verriß zeigt sich der ganze Mensch! Der Verriß ist nicht einfach eine Textsorte, die mehr oder minder virtuos ins mediale Rauschen eingespeist wird, den Leser amüsiert und den Autor vor erlittener Ungerechtigkeit aufstöhnen läßt, sondern er ist eine Regierungserklärung, ein Machtanspruch, ein Fehdehandschuh, eine Selbstoffenbarung und eine Selbstinszenierung zugleich, ein Manifest, das die geistige Welt dazu zwingen will, alles, was sie bisher für wahr und richtig gehalten hat, in einem neuen Licht zu sehen.
    Natürlich schrieb ein Literaturkritiker auch im Jahr 2003 noch Verrisse, doch waren sie, meinte ich, schon lange nicht mehr jene amtliche Erkennungsmelodie, mit der sich ein Kritiker in der Umlaufbahn der großen Fixsterne des literarisch-kulturellen Universums positionierte – und zwar, weil es ein solches Fixstern-Universum nicht mehr gibt. Raddatz’ Autorität, sein Glanz, ja sein Glamour hingegen speisen sich aus dem unbeirrbaren Willen, an dieses Fixstern-Universum zu glauben. Raddatz ist auf eine geradezu übermenschlich gesunde Art immun gegen die hochinfektiöse Krankheit des Relativismus. Seine ganze geistige Lebensform, das Flamboyante, das Virtuose, das Ballerinenhafte und auch das Hochmögende, setzen einen Kosmos voraus, in dem ein Name wie Jean Genet als Erkennungszeichen, ein Name wie Susan Sontag als Respekt einflößende Einschüchterungsformel funktioniert. Solche intellektuellen Stichwortgeber und exemplarischen geistigen Existenzen sind der Goldstandard, zu ihnen mag man sich kontrovers positionieren, aber an ihrer Relevanz, ihrer geradezu physikalischen Sonnenhaftigkeit besteht kein Zweifel. Es gibt bei Raddatz immer wieder – vor allem in seinen einzigartigen Tagebüchern – Töne der Niedergeschlagenheit, der Melancholie, ja der umfassenden Lebensenttäuschung, aber nie ergreift ihn die Resignation, der Gegenstand seiner Leidenschaft, die Literatur, sei womöglich nur ein Glasperlenspiel und nicht der Nabel der Welt.
    Jede Sache ist so wichtig, wie man sie nimmt. Raddatz’ Vitalität, sein Enthusiasmus und sein Spieltrieb waren immer so groß, daß unter seinen Händen die Literatur nie klein geworden ist. Noch sein im vergangenen Jahr veröffentlichtes «Bestiarium der deutschen Literatur» legt davon Zeugnis ab: Natürlich ist es ein großer Spaß, wie Raddatz da die Literaten der deutschen Gegenwartsliteratur von Rang beschreibt, als wären sie zoologische Arten mit charakteristischen Eigenschaften, was ihr Beuteschema, ihre Täuschungsstrategien und ihr Reproduktionsverhalten betrifft. Doch liegt diesem Spaß die ernste Überzeugung zugrunde, daß jede wahrhafte Schriftstellerexistenz zugleich so individuell wie allgemein gültig ist, daß sie es verdient, in den Rang einer zoologischen Art erhoben zu werden.
    Das ist bei Raddatz ein höchst produktives Wechselverhältnis: Die Literatur ist ganz selbstverständlich der gesellschaftliche Leitdiskurs, und daraus leitet sich ebenso selbstverständlich das Selbstbewußtsein des Kritikers ab. Das vorliegende Buch versammelt feuilletonistische und literaturkritische Texte aus fünf Jahrzehnten. Raddatz portraitiert Schriftsteller von Flaubert bis Faulkner, von Böll bis Hermlin. Er interviewt Nadine Gordimer und Arthur Miller. Er schlägt sich mit der deutschen Zeitgeschichte herum, wenn er Thomas Manns berühmte Selbstbefragung «Bruder Hitler» während des deutschen Herbstes als «Bruder Baader» neu auflegt. Er wehrt sich nach dem Mauerfall mit heißem Herzen gegen die linke Skandalisierung der bevorstehenden Wiedervereinigung und
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