Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Mittelgewichts-Ehe

Eine Mittelgewichts-Ehe

Titel: Eine Mittelgewichts-Ehe
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
Kamera mit zwei Objektiven - das Teleobjektiv und eins für Nahaufnahmen mit tiefenscharfer Feineinstellung. Das Weitwinkelobjektiv kann man vergessen; es gibt keinen Winkel, der weit genug wäre.
    Aber in Maine dachte ich nicht über Frankreich nach. Ich verarztete infizierte Insektenstiche und bangte mit der Bauernarmee von Andreas Hofer, dem Helden von Tirol. Ich verzweifelte über Utschs Verzweiflung angesichts der zerklüfteten Klippen von Maine, der Gefahren der Gewässer von Maine; unsere Kinder waren damals in einer gefährlichen Phase (wann sind sie das eigentlich nicht?) - sie waren beide Nichtschwimmer. Utsch hatte das Gefühl, sie seien im Auto oder in Antiquitätenläden am sichersten, und ich wollte keinen weiteren Stich von einer Kriebelmücke, einem Grünauge oder einem Salzwasser-Moskito herausfordern. Ein Sommer an der Küste von Maine, den wir mit Stubenhocken verbrachten.
    »Warum sind wir überhaupt hierhergekommen?« fragte mich Utsch. »Warum?«
    »Um wegzukommen«, wagte ich zu sagen.
    »Von was?«
    Es ist eine Ironie, jetzt daran zu denken, aber bevor wir Edith und Severin Winter kennenlernten, gab es eigentlich nichts, wovon wir hätten wegkommen müssen. In jenem Sommer in Maine kannten wir Edith und Severin noch nicht.
    Mir fällt ein Beispiel für die Nahaufnahme ein. Ich habe mehrere Vorher-nachher-Fotos der Kathedrale von Reims. Darunter sind zwei vom linken Eingang des Westportals - Nahaufnahmen des Engels namens »Das Lächeln von Reims«. Vor der Beschießung der Kathedrale lächelte der Engel tatsächlich. Neben ihm streckte ein hoffnungsloser Saint-Nicaise den Arm aus - die Hand am Gelenk abgetrennt. Nach dem Bombardement hatte der Engel namens »Das Lächeln von Reims« keinen Kopf mehr. Sein Arm war am Ellbogen abgetrennt, aus seinem Bein war, vom Oberschenkel bis zur Wade, ein Steinbrocken herausgerissen. Der hoffnungslose, vorwarnende Saint-Nicaise hatte die andere Hand, ein Bein, sein Kinn und seine rechte Wange verloren. Nach dem Beschuß war sein zerstörtes Gesicht für sie beide bezeichnend, ganz so, wie das Lächeln des Engels einmal seinen Trübsinn überstrahlt hatte. Nach dem Krieg ging in Reims die Rede, daß die joie de vivre im Lächeln des Engels in Wirklichkeit die Bomben auf ihn gezogen hätte. Die klugen Menschen von Reims geben, etwas subtiler, zu verstehen, es sei sein grämlicher Gefährte, jener verdrießliche Heilige, gewesen, der es nicht habe ertragen können, neben solcher Verzückung wie der des Engels finster dreinzuschauen; er sei es gewesen, der die Bomben auf sie beide lenkte.
    In dieser Gegend Frankreichs heißt es gemeinhin, die Moral des »Lächelns von Reims« sei: Wenn Krieg herrscht und du steckst drin, dann freu dich nicht; du beleidigst sowohl den Feind als auch deine Verbündeten. Aber diese Moral des »Lächelns von Reims« ist nicht sehr überzeugend. Die guten Leute von Reims haben nicht diesen Blick fürs Detail wie ich. Solange das Lächeln und der Kopf des Engels intakt sind, leidet der Heilige neben ihm. Sobald sein Lächeln und der Rest seines Kopfes ihn verlassen haben, wirkt dieser Heilige - trotz neuer, eigener Wunden - zufriedener. Die Moral des »Lächelns von Reims« lautet meiner Ansicht nach, daß ein unglücklicher Mann keine glückliche Frau ertragen kann. Saint-Nicaise hätte dem Engel mit oder ohne Hilfe des Ersten Weltkriegs das Lächeln, wenn nicht gar den Kopf genommen.
    Und dieser gottverdammte Severin Winter hätte Edith mit mir oder ohne mich angetan, was er ihr angetan hat!
    »Hab Geduld«, pflegte Utsch in den ersten Runden ihres Kampfes mit meiner Sprache zu sagen.
    Okay, Utsch. Ich sehe die Nahaufnahmen der Beschießung von Reims. Die Teleaufnahme ist immer noch unklar. Es gibt da eine lange, breite, von der Kathedrale aus fotografierte Ansicht der zerschossenen Stadtviertel, aber weder ich noch die gescheiten Leute von Reims haben daraus eine Moral abgeleitet. Wie ich schon riet, vergiß den Weitwinkel. Ich sehe auch Edith und Severin Winter nur in Nahaufnahme. Wir Verfasser historischer Romane brauchen Zeit. Hab Geduld.
    Severin Winter - dieses schlichte Gemüt, dieser sture Preuße! - hatte sogar ein Stück Geschichte mit Utsch gemeinsam, soweit das überhaupt eine Rolle spielte. Die Geschichte lügt bisweilen. So zählt man zum Beispiel die Enthauptung des Engels namens »Das Lächeln von Reims« und die übrigen der Kathedrale von Reims beigebrachten Schäden zu den menschlichen Greueln des Ersten
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher